Ein Jahr Petition "Jedes Kind muss lesen lernen"

"Wir haben keine potente Lobby für das Lesen"

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Das sechsjährige Mädchen Amy in der Kinderbibliothek in Frankfurt (Oder).
Die Eltern übernehmen eine wichtige Rolle, Kindern Lust am Lesen zu vermitteln. Aber auf ihnen dürfe nicht zu viel Verantwortung lasten, findet Kirsten Boie. © picture alliance / Patrick Pleul
Kirsten Boie im Gespräch mit Ute Welty · 15.08.2019
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Die Autorin Kirsten Boie engagiert sich dafür, dass jedes Kind lesen lernt. Letztes Jahr überreichte sie eine Petition mit 120.000 Unterschriften an das Bildungsministerium. Doch sie ist unsicher, ob die Dringlichkeit des Anliegens angekommen ist.
Vor etwa einem Jahr überreichte die Hamburger Kinderbuchautorin Kirsten Boie rund 120.000 Unterschriften an das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Darin forderten die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) auf: "Jedes Kind muss lesen lernen!"
Ursprung dieser Initiative waren die Ergebnisse der IGLU-Studie, die ergeben hatten, dass knapp ein Fünftel der Zehnjährigen in Deutschland nicht so lesen können, dass sie einen Text auch verstehen. Für Boie ein Grund, aktiv zu werden und bessere Maßnahmen gegen fehlendes Leseverständnis und Lesefähigkeiten zu fordern. Hat sich rund ein Jahr später politisch etwas getan?
"Ich sehe durchaus, dass das Thema Lesen stärker auf die Agenda gerückt ist, vor allem bei den Medien", sagt Boie. "Aber die Artikel sind nicht das, was wir wollen. Die sollen nur dazu führen, dass sich die Politiker genötigt fühlen, etwas zu unternehmen." Sie wisse etwa nicht, ob die Länder bei der Kultusministerkonferenz überhaupt über das Thema Lesen gesprochen hätten, sagte Boie. Es sei schließlich niemand verpflichtet, sie zu informieren.

Können nicht immer auf die Familien zeigen

"Was mir fehlt, ist die Anerkennung, dass es sich tatsächlich um ein bundesweites Problem handelt, dem man nicht nur auf Länderebene begegnen kann. Wir haben unsere Hamburger Erklärung so formuliert, dass kein Kind die Schule verlassen darf, ohne lesen zu können. Das bedeutet nicht, dass die Kultusminister das allein lösen können. Es beginnt schon vor der Schule und damit müssten auch andere Ministerien miteinbezogen werden." In der Familie etwa würden die entscheidenden Weichen gestellt für die Lernfähigkeit der Kinder, darum müssten Familien unterstützt werden.
Wenn es um den Zugang zu Bildung geht, spiele anders als in anderen Ländern in Deutschland die Herkunft der Kinder eine übergroße Rolle. Aber: "Wir können nicht immer auf die Familien zeigen. Viele Familien können nicht leisten, was getan werden müsste, weil die Eltern sich gar nicht zutrauen, ihren Kindern beispielsweise vorzulesen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche und eine staatliche Aufgabe."

Ein Lesepakt nach Vorbild des Digitalpakts

Ginge es nach Boie, gäbe es genauso wie den Digital- auch einen bundesweiten Lesepakt, für den Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden.
"Wir haben keine wirtschaftlich potente Lobby für das Lesen", wie das etwa beim Thema Digitalisierung der Fall sei. Das sei grotesk, denn es betreffe die Gesellschaft als Ganzes. "Jugendliche, die nicht lesen können, sind Jugendliche, die keine Ausbildung durchlaufen können." Damit komme dem Lesen eine Schlüsselrolle zu, was die wirtschaftliche Potenz eines Landes angehe.
Wie viel sich durch geeignete Maßnahmen verbessern könne, sehe man am Beispiel Hamburg, wo nur 14 Prozent der Kinder Probleme beim Lesen hätten (zum Vergleich: in Berlin sind es 25 Prozent): Dort gebe es Sprachprüfungen, Kita- und Vorschulverpflichtungen und logopädische Angebote. Boie ist davon überzeugt, dass das Leseverständnis von Kindern sich durch solche Maßnahmen verbessern könnte, würden sie auf Bundesebene eingeführt.
(aba)
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