Orientierungsversuche in der Coronakrise

Macht Euch keine Illusionen

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Auf einem Blatt Papier sind die Silhouetten verschiedener Menschen und ein unübersichtliches Wegesystem mit Pfeilen in alle Richtungen gemalt.
Was heute gilt, kann in der Coronakrise morgen schon wieder falsch gewesen sein. © imago images / Leigh Wells
Eine Kolumne von Mathias Greffrath · 15.04.2020
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Die Coronakrise ist kein kurzer Ausnahmezustand, sie ist: ein Marathon. Diese Erkenntnis befreit unseren Kolumnisten Mathias Greffrath aus dem Hin und Her zwischen Lethargie und hastigen Schlussfolgerungen. Nun bleibe Zeit, neue Ideen zu durchdenken.
Erst kurz vor Ostern schafften mir zwei Sätze Erleichterung. Der erste kam von Jürgen Habermas: "Soviel Wissen über unser Nichtwissen und den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie." Unsicherheit – das war wohl die verstörendste Gemeinsamkeit dieser hektischen vier Wochen vor Ostern. Sind es wirklich erst vier Wochen, seit die ersten Veranstaltungen mit über tausend Menschen abgesagt wurden? Vier Wochen, in denen sich die Zeitungslektüre oft bis gegen Mittag ausdehnte und die Tage mit der letzten Talkshow endeten? Vier Wochen im Strudel der Zahlen, die keine klaren Schlussfolgerungen zulassen und der transparenten Unsicherheiten der Virologen?
Vier Wochen telefonieren, telefonieren, telefonieren – mit meinen Freunden, denen es genauso ging wie mir; in denen wir uns stundenlang austauschten: im Zickzack zwischen dem Verfolgen von Ansteckungskurven und der Ratlosigkeit der Politiker; den häuslichen Debatten über den Nutzen von selbstgenähten Masken aus Jeansstoff oder die Legitimität von Tischtennisturnieren im Park; der misstrauischen Selbstbeobachtung und der frivolen Freude über die Frühlingspärchen, die mit Abstand auf der touristenfreien Rasenfläche vor dem Berliner Dom liegen und lieben; dem bösen Spott über den anschwellenden Corona-Kitsch in den Feuilletons und der erstaunten Freude, dass es sich lohnt, Stammkunde in der Apotheke zu sein.

Kein Ende abzusehen

Kurz und unangenehm die kleine Scham im Hinterkopf, dass wir hier diese erdballumgreifende Katastrophe in der allerersten Klasse erleben, selbst die Unterprivilegierten, Unterbezahlten, Uninformierten und Schlechternährten in den Plattenbauten und den Migrantenvierteln.
Ablenkung auf andere Themen funktioniert nicht, weil noch die alltäglichste Verrichtung durch das globale Geschehen bedingt und begrenzt ist. Und zunehmend wächst meine Hochachtung vor den Politikern, die unter den Bedingungen von Unsicherheit und Unwissen jetzt riskant handeln – und nur sehr verborgen und nicht so verroht und verdorben wie Trump ihre strategischen Spiele spielen.
So ging es Tag für Tag, im Zickzack der Gedanken und Gefühle. Bis dann, kurz vor Ostern, das Erlebnis kam, das mich aus der abwechselnd Panik und Apathie erzeugenden Kombination von Informationsüberflutung und begrenztem Wissen erlöste. Das am 2. April veröffentlichte, 22 Minuten lange Youtube-Video von Mai Thi Nguyen-Kim, dieses Meisterstück massenfreundlich formulierter epidemiologischer Aufklärung der jungen Chemikerin und Wissenschaftserklärerin – gute zehn Tage vor den Manifesten aus Akademien und Expertenzirkeln, und mit der klaren Konklusion am Ende: Nehmt es sportlich, Freunde, denn es ist kein Ende abzusehen, und es wird viele kleine Opfer geben müssen, wenn es nicht sehr viele Tote geben soll.

Mai Thi Nguyen-Kim: "Das ganze ist ein Marathon"

Macht Euch keine Illusionen, diese Pandemie wird erst wirklich enden, wenn ein Impfstoff gefunden ist. Bis dahin gilt, wie auch immer die Regierenden handeln und die Regierten folgen und auch wenn alle Maßnahmen schneller greifen als befürchtet: "Fußballstadien, Konzerte, Festivals, Kongresse, Strandleben, Après-Ski 2020 – Freunde, vergesst es." Es ist eine "realitätsferne Fantasie", dass wir nach Ostern oder auch nur in diesem Jahr schon das Schlimmste einigermaßen glimpflich überstanden haben werden. "Das Ganze ist ein Marathon."
Ein Marathon. Das war der zweite, ebenso pathosfreie wie lebenszugewandte Satz, der mich aus dem Hin und Her aus Lethargie und hastigen Schlussfolgerungen holte – und meinen Zeithorizont zurecht rückte: Ich glaube, solange es noch um die Eindämmung der Ausbreitung des Virus, um die grobkalibrige Dämpfung der wirtschaftlichen Verwerfungen geht, würden grundstürzende Großentwürfe über epochale Veränderungen, die Corona nach sich ziehen wird, verpuffen oder schnell zu Makulatur werden.
Auch die anthropologische Frage, ob Menschen durch die Pandemie solidarischer oder rücksichtsloser werden, lässt sich nicht philosophisch vorab klären. Solange Politik noch im Modus der Notmaßnahmen geschieht, geht es allenfalls darum, die krassesten Rollbacks in der Klimapolitik, in der europäischen Integration, im Krisengewinnlertum zu identifizieren und möglichst zu blockieren. Vieles wird nicht zu verhindern sein: das Wachstum von amazon, die Leerverkäufe an den Börsen, die Kapitalflucht aus Italien, das Comeback der Plastiktütenindustrie (weil Mehrfachnutzung virulent sei) und so weiter: die in der Poleposition werden sie nutzen.

Atempause der Weltwirtschaft zum Nachdenken nutzen

Aber – es ist ein Marathon, also haben wir Zeit, konkret nachzudenken: über die Entkommerzialisierung der Pflege etwa; den Umfang staatlicher und kommunaler Daseinsfürsorge; über Deglobalisierung oder die Zukunft Europas, über Projekte wie Grundeinkommen oder allgemeine Dienstpflicht, über ein Arbeitsrecht, das krisen- und automatisierungstauglich ist, vor allem aber über die Grenzen eines Wachstums, das wieder sehr schnell als heiliges Allheilmittel beschworen wird.
"Nehmt es sportlich, Freunde" – das heißt auch: nehmt es gründlich, nutzt diese hektische Atempause der Weltwirtschaft, solche Ideen nicht nur zu proklamieren, sondern auf Realisierbarkeit zu testen, durchzurechnen, Alternativen zu prüfen und Bundesgenossen zu finden – damit die Zeit danach mehr sein wird als nur eine Rückkehr zur Normalität.
Für eine Weile noch sind wir im Strudel: der Meinungen, der Zahlen, der Erkenntnisse, der Unsicherheiten, der Kräfte. "Wenn Sie in einem Strudel schwimmen," schrieb der Weltökonom Immanuel Wallerstein nach der Finanzkrise 2008/9, dann suchen Sie sich ein Ufer und versuchen mit jedem nächsten Zug in diese Richtung zu schwimmen, aber Sie müssen sich für ein Ufer entscheiden, sonst gehen Sie unter."

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "Die Zeit", die "taz" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?".

Der Publizist Mathias Greffrath beim Großen Abend über Karl Marx auf der Phil.Cologne 2017.
© imago/Horst Galuschka
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