Ein Jahr ohne "Der kleine Prinz"

Im Abwehrkampf gegen die totale Verkitschung

02:33 Minuten
Wandbild in Zagreb, das den kleinen Prinzen zeigt - eine Figur des französischen Autors Antoine de Saint-Exupery.
Der kleine Prinz ist überall: Hier taucht er auf einem Wandbild in Zagreb auf. © picture alliance / dpa / PIXSELL Patrik Macek
Von Hans von Trotha · 29.06.2020
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In diesem Jahr wäre Antoine de Saint-Exupéry 120 Jahre alt geworden. Der Name des Autors ist untrennbar mit dem "kleinen Prinzen" verbunden. Schon lange ist das Geschöpf popkulturell allgegenwärtig. Das ist fatal: Wir brauchen eine Prinzen-Pause.
Fünf Gründe, ein Jahr lang auf den "kleinen Prinzen" zu verzichten:
1. Wenn ein Computer sich festgehakt hat, gibt es nur eines: runterfahren, ausschalten, Neustart. Und Neustart geht nur, wenn man ihn vorher ganz ausgeschaltet hat – ganz! Dieses Phänomen gibt es auch beim Umgang mit Engeln auf Deckengemälden, Musikstücken zu den vier Jahreszeiten – und mit Texten. Zum Beispiel: "Der kleine Prinz".
2. Die Einsicht, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, ist wunderschön, wenn man sie im Kontext und zum ersten Mal und als Teil einer stilistisch märchenhaft anmutenden literarischen Erzählung liest. Auf einem Badehandtuch oder einer Kaffeetasse wird auch aus dem schönsten Gedanken abstoßender Kitsch.
3. Zu den am schwierigsten zu treffenden Unterscheidungen gehört die zwischen schlicht und simpel. Ein schlichter Gedanke, eine schlichte Formulierung, eine schlichte Eleganz können eine Bereicherung für die Welt sein, solange sie nicht auf simple Einfalt reduziert und völlig sinnentleert reproduziert werden – was bei Texten spätestens dann der Fall ist, wenn sie auf Kaffeetassen erscheinen.
4. Der Corona-Lockdown hat uns gerade gelehrt, wie schnell und effektiv Verzicht die Wertschätzung von Dingen befördern kann, die man für selbstverständlich genommen hat oder derer man überdrüssig geworden ist – dies ist der ideale Zeitpunkt, dieses Verfahren bewusst und damit sehenden Auges auf einen Text und seine Illustrationen anzuwenden, die sonst schlicht nicht zu retten sind.
5. Um den schönen Sätzen aus Saint-Exupérys Buch ihre Schlichtheit zurückzugeben, müssen sie vom sie längst überwuchernden Kitschwahnsinnsunkraut befreit werden, und das geht nur durch völligen Verzicht auf den kleinen Prinzen: als Kaffeetasse und als Badehandtuch, aber auch überhaupt als Text, Illustration, Comic, Theaterstück, Film, Oper, Briefmarke, Münze, als Dekoaufdruck jeglicher Art in Wort und Bild. Das gilt erst einmal für ein Jahr, danach wird das Verkitschungsgeschehen neu bewertet. Und wenn es wirkt – und es wird wirken! - dann kommen ein Jahr Goethe, ein Jahr Thomas Mann und – sorry, folks – zwei Jahre Hermann Hesse.
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