Ein Jahr nach den Unruhen in Delhi

Spuren der Gewalt

07:27 Minuten
Ein Mann steht auf einer verwüsteten Staßen, neben einem ausgebrannten Auto und blickt auf ein bebschädigtes Wohngebäude außerhalb des Bildes.
Neu-Delhi im Februar 2020: Nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen blieben viele Straßen völlig verwüstet zurück. © AFP / Saajjad Hussain
Von Antje Stiebitz · 21.02.2021
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Im Februar 2020 kam es in der indischen Hauptstadt Neu Delhi zu blutigen Unruhen zwischen Hindus und Muslimen. Auslöser waren zwei neue antimuslimische und antisäkulare Gesetze. Die Gewalt hat Spuren hinterlassen.
Der Stadtteil Shiv Vihar im Nordosten der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Ein Kanal führt schmutziges Wasser. An seinen Rändern häuft sich der Müll. Auf einer holprigen Straße drängen sich Fahrräder, Rikschas und Autos. Kleine Garagenläden säumen die Straße, darüber liegen Wohnungen.
Neben vielen hinduistischen und wenigen muslimischen Nachbarn lebte Mohammed Yamin hier mit seiner Familie und verkaufte Lebensmittel. Bis zu jenem Tag vor einem Jahr, wie er erzählt:
"Vier oder fünf Personen kamen von dort und trugen Lautsprecher. Sie begannen Slogans wie 'Es lebe Gott Ram!' zu rufen. Sie verkündeten, dass im Stadtteil Jaffrabad bereits Unruhen begonnen hätten und dass das Morden jetzt auch hier beginne. Kurz danach ging es los."
Der 52-Jährige verriegelte sein Haus und floh mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Mustafadad, einem benachbarten Stadtteil, in dem mehr Muslime leben. Nachdem sich die Gewalt entladen hatte, kehrte er zurück. Mohammad Yamin deutet auf ein großes Loch in der Wand zum Hausaufgang.

Wohnung und Laden völlig leer geräumt

"Zuerst haben sie den Fensterladen aufgebrochen", sagt Yamin, "und als sie die Tür zur Wohnung nicht öffnen konnten, brachen sie dieses Loch in die Wand, öffneten die Tür von innen und gingen nach oben. Sie haben alles mitgenommen. Nichts blieb zurück."
Ein Mann mittleren Alters mit dunklen, nach hinten gekämmten Haaren und  Schnurrbart steht vor der rot verputzten Wand eines Ladengeschäfts.
"Sie haben alles mitgenommen": Mohammad Yamin fing nach den Plünderungen mit einem neuen Laden noch einmal von vorne an.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Millionen von Rupien habe er verloren, die versprochenen Kompensationen der Regierung blieben aus. Seine Familie ist inzwischen umgezogen, anstelle von Lebensmitteln verkauft er jetzt Altwaren.

Hassreden gegen friedlichen Protest

Für die damaligen Spannungen waren wohl die neu verabschiedeten Staatsbürgerschaftsgesetze und die Einführung des Nationalen Staatsbürger-Registers verantwortlich. Beide Verordnungen verschärfen die bereits prekäre Lage der muslimischen Minderheit im Land.
Der friedliche Protest von Shaheen Bagh, ein Sit-In von muslimischen Frauen und Sympathisanten quer durch die indische Gesellschaft, entzündete den Zorn hindu-nationalistischer Politiker. Ihre Hassreden und ein Ultimatum, die besetzte Straße zu räumen, ließen die Situation eskalieren.
Die Gewalt zwischen Hindus und Muslimen dauerte sechs Tage an und forderte 52 Todesopfer. Es gab 200 Verletzte und Sachschäden in Millionenhöhe.
Lieferwägen und Motorräder fahren und parken vor einem Lebensmittelgeschäft mit rotem Werbeschild, am Obstverkaufsstand sprechen zwei Männer mit Mund-Nasen-Masken gegen Ansteckung mit dem Covid-19-Virus mit dem Händler, der hinter der Auslage mit Orangen sitzt.
Das Viertel Shiv Vihar im Januar 2021: Der Alltag kehrt zurück, doch die Narben der gewaltsamen Ausschreitungen sind noch überall zu finden.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Konsequenzen für die Täter folgten kaum, sagt der indische Journalist Mohammed Ali:
"Die meisten Fälle wurden nicht aufgearbeitet. Allerdings hat die Modi-Regierung einige Gerichtsprozesse dafür genutzt, ihren Kurs weiter durchzusetzen und die Demonstranten eingesperrt, die gegen die neuen Gesetze protestiert haben."

Reformgegner vor Gericht – Polizei und Politiker unbehelligt

Der indische Journalist Mohammad Ali hat beobachtet, dass vielen der Reformgegner der Prozess gemacht wird. Ihnen wird vorgeworfen, die Unruhen angestiftet zu haben. Obwohl es nachher vor allem ein hindu-nationalistischer Mob war, der die Zerstörungen verursachte. Aus Sicht von Mohammad Ali handelt es sich bei den Angeklagten schlicht um Muslime, um ganz normale Menschen.
Dafür blieben führende BJP-Politiker, die sich in aller Öffentlichkeit für Hass ausgesprochen hatten, völlig straffrei, beklagt der Journalist: "In einer normalen und funktionierenden Demokratie wäre der BJP-Politiker Kapil Mishra an jenem Tag hinter Gittern gelandet, an dem er seine Hassrede gehalten hat. Als BJP-Führer den Mob dazu ermunterten, auf die Protestierenden zu schießen, hätte die Polizei das aufnehmen müssen. Aber nichts davon ist geschehen."
Straflos, so Mohammad Ali, komme auch die Polizei davon. Diese habe bei den Übergriffen oft tatenlos zugesehen und in einigen Fällen sogar selbst daran teilgenommen.
Blick in eine enge Gasse in Shiv Vihar, einem Stadtteil der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, im Vordergrund ein schlanker Baum und eine Treppe, die an einer unverputzten Hauswand hoch führt, hinten Menschen in gelben, grünen, rosa Hemden
Ruhe nach dem Sturm: Im Februar 2020 zogen Randalierer und Gewalttäter durch die Gassen von Shiv Vihar.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Bollywood-Musik schallt durch eine Gasse, die tiefer ins Viertel Shiv Vihar führt. Handwerker hämmern große Metallkessel in Form. Vor einem Hauseingang steht Tazhjib Fatma, von Kopf bis Fuß in einen Sari gehüllt. Sie erzählt, was ihrem Bruder an jenem Tag im Februar 2020 geschah:
"Sie haben ihm die Rikscha weggenommen und ihn schwer verletzt. Sein Zustand war so schlecht, dass er bereits für tot gehalten wurde."

Verletzungen bis heute nicht geheilt

Später erfuhr seine Familie, dass er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Zu dritt hatten sie sich damals in der oberen Etage des Hauses versteckt, die Haustür abgeschlossen, erzählt Tazhjib Fatma:
"Die Randalierer kamen durch die nächste Gasse, aber hier haben sie nicht gewütet."
Eine Verwandte bringt das Foto ihres Bruders. Es zeigt den 22-Jährigen mit blau geschlagenen und zugeschwollenen Augen. Bis heute, sagt Tazhjib Fatma, leide er an seinen Verletzungen.
Ein junger Mann mit Vollbart, im offenen Hemd und grauer Weste, steht im Freien vor einem Metallgitter, im Hintergrund hantieren drei Jugendliche, die Mund-Nasen-Masken gegen die Ansteckung mit dem Covid-19-Virus tragen, mit einer Ledertasche.
"Die Muslime müssen die Mentalität des Jihad aufgeben": Vishnu Gupta, Gründer der Bewegung "Hindu Sena", ist davon überzeugt, dass oppositionelle Gruppen zu den Unruhen aufgestachelt haben.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
"Die Unruhen passierten, weil die Einheit und Integrität Indiens verletzt wurden", sagt Vishnu Gupta. "Die Feindschaft zwischen Hindus und Muslimen sollte deutlich werden – aber diese Feindschaft scheint mir hier in Delhi nicht so groß."

Hindunationalisten beschuldigen die Opposition

Vishnu Gupta ist der Gründer der "Hindu Sena", übersetzt: Hindu-Armee, einer rechtsnationalistischen Gruppierung. Aus seiner Sicht waren die Unruhen von den Oppositionsparteien geplant, um das Image Indiens zu schädigen. Er bedauert, dass dabei Menschen zu Tode kamen. Dann erklärt er:
"Um Hindus und Muslime zu versöhnen, sollten die Muslime alle Tempel wiederaufbauen, die während der Mogul-Periode zerstört wurden. Die Muslime sollten anbieten, alle Moscheen verlassen, die auf zerstörten Tempel gebaut wurden. Außerdem müssen sie Mentalität des Jihad aufgeben."
Auf hinduistischer Seite sieht Gupta kein Fehlverhalten.

Opfer sind die Armen

In Shiv Vihar zeigt der 29-jährige Imran die verkohlten Wände seines Ladens, der während der Unruhen geplündert und ausgebrannt wurde.
"Es ging nur um Politik", sagt Imran. "Ohne Politik gibt es nie Unruhen. Diese Unruhen wurden von den politischen Führern organisiert. Auf der ganzen Welt ist nie ein Poltiker bei Unruhen zu Tode gekommen. Es sterben immer arme Menschen."
Ein junger Mann in Traininsjacke steht vor der Eisengittertür zu einem Warenlager, hinter ihm ein Mann mittleren Alters mit einer Mund-Nasen-Bedeckung zum Schutz vor Ansteckung mit dem Covid-19-Virus.
"Es sterben immer arme Menschen": Der Ladenbesitzer Imran meint, dass die Schwächsten der Gesellschaft zum Spielball politischer Interessen wurden.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
An zahlreichen Türen des Viertels hängen Vorhängeschlösser. Viele Muslime sind in ihre Herkunftsdörfer zurückgekehrt oder in stärker von Muslimen bewohnte Viertel gezogen. Ein Jahr nach den Unruhen ist in Shiv Vihar oberflächlich betrachtet wieder Ruhe eingekehrt. Aber die Narben sind unübersehbar.
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