Ein Jahr nach dem Vormarsch

Wir haben begonnen, den IS zu akzeptieren

Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht. Es zeigt mutmaßliche Kämpfer des IS, die nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak Stellung beziehen.
Das Foto stammt von der Gruppe Albaraka News, die den Dschihadisten nahe steht. Es zeigt mutmaßliche Kämpfer des IS, die nahe der Grenze zwischen Syrien und dem Irak Stellung beziehen. © picture alliance / dpa - Albaraka News
Von Björn Blaschke  · 10.06.2015
Zwölf Monate nach dem IS-Vormarsch nehmen wir mittlerweile das meiste hin, was die Terroristen verbrechen, kommentiert Björn Blaschke. Keine Regierung, der eine schlagkräftige Armee untersteht, sei bereit, das Notwendige zu tun, um den IS zu zerschlagen.
Wir haben begonnen, uns an den IS zu gewöhnen ...
Und das obwohl wir uns erst vor einem Jahr erstaunt die Augen rieben und fragten, was passiert da?! Wie aus dem Nichts kommend, stürmte eine Mörderbande durch den Irak - tötend, vergewaltigend, folternd und eroberte einen Ort nach dem anderen.
Ja, der rasante Vormarsch der Terrororganisation, die seinerzeit noch 'Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien' hieß, liegt ein Jahr zurück. Ein Jahr. Keine lange Zeit, in der aber viel passiert ist: Schreckliche Videos wurden veröffentlicht, die in HD-Qualität und perfekt choreographiert realen Horror zeigen.
Der Chef der Terroristen lässt sich mittlerweile mit Kalif anreden - womit er den Anspruch ausdrückt, die gesamte Gemeinschaft der Muslime zu führen ... Die Organisation, der er vorsteht, hat er umbenannt in Islamischer Staat ... Was treffend ist: Immerhin haben Zivilisten in den Gebieten, die unter Kontrolle des IS sind, staatsähnliche Strukturen aufgebaut, mit Ministern und Beamten, Versicherungen und Renten, Steuern und Subventionen, Müllabfuhr und Straßenreinigung, und - vor allem - mit einer enormen Streitkraft, einem regelrechten Heer, das sich zusammensetzt aus einfachen Kämpfern - Soldaten -, Spezialeinheiten, Propagandisten, einem Geheimdienst ...
Wir nehmen das meiste hin
Diese Streitkraft hat in den zurückliegenden zwölf Monaten Verluste hinnehmen müssen, im Großen und Ganzen hat sie jedoch Gebietsgewinne erzielt, zuletzt mit Palmyra in Syrien und Ramadi im Irak ... Alles in allem nennt der IS heute ein zusammenhängendes Territorium von mehr als 200 Quadratkilometern seines - ein Gebiet von der Größe Hollands, Belgiens und der Schweiz. Zusammengenommen! Und mit mehr als 15 Millionen Einwohnern.
Und wir? Wir haben angefangen uns daran zu gewöhnen, dass es den IS als eine gewisse Größe gibt. Ja, eine Koalition aus mehreren Staaten, der auch Deutschland angehört, liefert den Kurden im Irak Waffen, damit die ihre autonome Region verteidigen können. Obendrein attackieren Kampfjets der Anti-IS-Koalition immer wieder IS-Einrichtungen aus der Luft ...
Und trotzdem haben wir begonnen, den IS zu akzeptieren. Die internationale Staatengemeinschaft verurteilt aufs Schärfste - hier und da. Aber keine Regierung, der eine schlagkräftige Armee untersteht, ist dazu bereit, das zu tun, was nötig wäre, wenn denn der IS tatsächlich zerschlagen werden soll: Bodentruppen zu schicken. Regional kommen auch nur hohle Phrasen ... Aber die zwei Hauptakteure im Nahen Osten, Saudi-Arabien und Iran, setzen sich nicht zusammen, um ihre Streitigkeiten auszuräumen - und dem IS gemeinsam das Wasser abzugraben ... Was auf verschiedenen Ebenen nötig wäre.
Und wir? - Sie und ich? - Wenn wir ehrlich sind, können uns doch auch nur noch wirklich allerschlimmste Verbrechen der IS-Terroristen vom Korruptionsskandal bei der FIFA ablenken ... Ja, wir nehmen mittlerweile das meiste, was die IS-Terroristen verbrechen, hin. Aber sind wir damit nicht auf dem besten Weg dahin, zu akzeptieren, was der IS vorgibt zu sein? Sind wir nicht dabei, den IS als Staat anzuerkennen?
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