Ein Jahr mit Präsident Janukowitsch

Von Christina Nagel |
Als Viktor Janukowitsch vor fast genau einem Jahr, am 27. Februar 2010, in sein Amt als Präsident der Ukraine eingeführt wurde, sprach er von einer neuen Zeit, die nun anbreche. Heute, ein Jahr später, kommen aus dem Land der orangenen Revolution fast nur noch schlechte Nachrichten. Kritiker sprechen sogar schon von einer orangenen Konterrevolution. Die Ukraine ist auf dem Weg zurück in die Vergangenheit.
Julia Timoschenko eilt in den altehrwürdigen Konferenzraum im Hauptquartier ihrer Partei Vaterland. Es ist erst eins, aber der Terminplan ist bereits hoffungslos durcheinander. Überall warten Leute. Auf den Fluren, im Büro der Presseabteilung. Bei den Betreuern piepsen unablässig Handies und Smartphones. Die Stimmung ist angespannt. Die ehemalige Premierministerin gibt sich davon unbeeindruckt. Die 50-Jährige, deren Markenzeichen ihr blonder geflochtener Haarkranz ist, beherrscht wie kaum ein anderer ukrainischer Politiker das Einmaleins des professionellen Auftritts. Sie ist präsent, zuvorkommend. Mit leiser, unaufgeregter Stimme spricht sie über die Attacken der Regierung unter Präsident Janukowitsch gegen die Opposition.

"Sie versuchen, uns zu zermürben durch Verhöre bei der Staatsanwaltschaft. Sie werfen unsere Leute ins Gefängnis. Sie erniedrigen unsere Aktivisten. Und sie lassen uns nicht mehr im Fernsehen auftreten."

Dass es sich nicht nur um unbegründete Vorwürfe oder politische Parolen handele, zeige die Reaktion der internationalen Gemeinschaft:

"Die Europäische Volkspartei, der 73 Parteien aus 39 Ländern angehören, hat eine öffentliche Erklärung abgegeben. Darin heißt es, dass in der Ukraine politische Repressionen in vollem Gang sind. Man wendet sich an den Präsidenten, dies zu stoppen."

Die amerikanische Nichtergierungsorganisation Freedom House hat die Ukraine bereits wieder aus dem Kreis der Länder mit demokratischen Freiheiten ausgeschlossen. Sie gilt nur noch als eingeschränkt frei. Und dass der ehemalige Wirtschaftsminister Danilischin politisches Asyl im EU-Land Tschechien bekommen habe, spreche für sich, meint die Oppositionsführerin. Danilischin wird vorgeworfen, sein Amt missbraucht zu haben. Dem Staat soll dadurch ein Schaden von über 1,2 Millionen Euro entstanden sein. Er war im August international zur Fahndung ausgeschrieben worden. Ende Oktober wurde er in Tschechien festgenommen. Am 14. Januar aber wieder auf freien Fuß gesetzt. In der Ukraine sitzen bereits zehn Minister der ehemaligen Regierung Timoschenko in Untersuchungshaft. Sie selbst darf die Hauptstadt Kiew nicht verlassen. Gegen sie laufen mittlerweile zwei Verfahren. In beiden Fällen geht es um Amtsmissbrauch. Fast täglich muss sie zu mehrstündigen Verhören bei der Generalstaatsanwaltschaft erscheinen.

"Die jetzige Regierung behauptet, dass ich in meiner Zeit als Ministerpräsidentin Gelder, die wir durch den Verkauf von Emissionszertifikaten erlöst haben, benutzte, um in der Krise Renten auszuzahlen. Trotz der schweren Wirtschaftskrise habe ich tatsächlich kein einziges Mal versäumt, Renten auszuzahlen. Auch nicht verspätet. Ich habe aber kein einziges Mal dazu Gelder aus dem Sonderfonds des Kyoto-Protokolls verwendet."

An dieser Stelle wird es kompliziert. Timoschenko lächelt. Sie hat bereits den Ermittlern Nachhilfe in Sachen Aufbau und Kontenstruktur des ukrainischen Schatzamtes gegeben müssen. Die Ukraine nutzt ein angelsächsisches Modell. Es gibt ein einheitliches Schatzkonto, in dem alle Guthaben auf der Habenseite verbucht werden. Also auch die, die auf spezifischen Sonderkonten liegen. Auf der Sollseite werden alle Ausgaben verzeichnet. Es sei normal, dass die realen Gesamteinlagen hin und wieder geringer seien, als die Summe der Gelder auf den Sonderkonten. Zum Beispiel dann, wenn die Steuern noch nicht eingegangen seien, aber laufende Ausgaben beglichen würden. Dies heiße aber nicht automatisch, dass die Sonderkonten geplündert worden seien.

"Wir haben die Akte der Kontroll- und Revisionsverwaltung vorliegen, die sich auf eine Revision bezieht, die von der amtierenden Regierung veranlasst wurde. Darin steht, dass sich die Kyoto-Gelder zum 1. Januar 2010 auf dem Sonderkonto des Umweltministeriums befanden."

Julia Timoschenko hält die Klagen – auch gegen die Mitglieder ihrer ehemaligen Regierung - für klar politisch motiviert. Es gehe darum, die Opposition zu schwächen und handlungsunfähig zu machen.

"Alles spricht dafür, dass sie ohne meine Partei, ohne mich als Leiterin dieser oppositionellen Kraft in die Parlamentswahlen gehen wollen. So wie in anderen Ländern des postsowjetischen Raums, wo man auch keine Konkurrenz duldet."

Timoschenko ist, obwohl als Politikerin im Land mittlerweile umstritten, nach wie vor die zentrale Figur der Opposition. Sie steht symbolisch für die orange-farbene Revolution. Und sie gilt als politische Erzrivalin des amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch. Timoschenko ist eine der wenigen, die es auch zurzeit trotz allgemeiner Politikverdrossenheit schaffen, Tausende Menschen auf die Straße zu bringen.

Beobachter wie der Leiter des Konrad-Adenauer-Büros in der Ukraine, Nico Lange, werten die Anklagen als einen Versuch der Regierung, sie von neuen politischen Ämtern fernzuhalten:

"Und wenn man das verhindern will, dann braucht man ein Gerichtsurteil gegen sie. Das scheint mir, die politische Motivation hinter diesen Gerichtsverfahren zu sein. Und wenn ich das sage, heißt das wiederum nicht, dass juristisch gegen diese Person rein gar nichts vorliegen kann. Also das muss man in diesem Fall überprüfen. Aber man kann nicht selektiv Recht sprechen. Und dann soll man auch die Verhältnismäßigkeit wahren. Wenn eine Premierministerin Gelder, die für einen Zweck bestimmt sind, für einen anderen Zweck temporär benutzt hat. Und da sind am Ende keine Schäden entstanden. Mal abgesehen von Verlusten die durch Wechselkurse entstanden sind. Dann kann ich nicht so ganz verstehen, warum man dieser Dame mit Verhaftung droht und sie täglich in die Staatsanwaltschaft zitieren muss."

Die Regierung rechtfertigt den harten Kurs auf ihre Weise. Spricht von Fluchtgefahr und schweren Vergehen. Die Klagen gegen Timoschenko, ihre Minister und Berater seien Teil des Kampfes gegen die Korruption im Land. Wenn der Parlamentsabgeordnete und Leiter der Oppositionspartei "Bürger-Position", Anatoli Grizenko, das hört, zieht er wütend und noch länger als sonst an seiner Zigarette und inhaliert tief. Man könne ja von Timoschenko halten was man wolle … Aber erstens sei keiner der Beschuldigten der Korruption angeklagt. Zweitens hätten alle nur ihren Job gemacht.

"Das gleiche machen die Beamten der amtierenden Regierung – nur noch schlimmer! Das heißt, Janukowitsch sorgt nicht für Ordnung oder Recht. Er nutzt das Recht, wie er es braucht."

Und weil eine starke Opposition eher hinderlich sei, nutze er seine Rechte und seinen Einfluss eben auch dazu, diese langsam, aber sicher abzuschaffen. Und das sei keine Übertreibung. Selbst unter Präsident Kutschma, dessen System als wenig demokratisch galt, habe die Opposition mehr Rechte gehabt:

"Noch so ein Detail, damit Sie verstehen, dass wir uns rückwärts bewegen. Es gab ein Gesetz, dass Janukowitsch ändern ließ, es gab der Opposition konkrete Rechte. Zum Beispiel, das Recht den Haushaltsausschuss im Parlament zu besetzen, oder den Ausschuss für Presse- und Meinungsfreiheit oder den Ausschuss, der sich mit der Geschäftsordnung beschäftigt…Das gibt es jetzt nicht mehr."

Viele solcher Gesetzesänderungen würden still und heimlich von der Regierung über die Bühne gebracht, sagt der ehemalige Verteidigungsminister. Als Methode bewährt habe sich dabei der so genannte "Gesetzes-Zug": dem Parlament wird ein Gesetz vorgelegt, das sich mit einem harmlosen Thema beschäftigt. Dies wird ausführlich dargelegt und fungiert als Lokomotive. Nur wer aufmerksam bis zum Ende weiter liest, bemerkt, dass eine ganze Reihe Waggons mit weiteren Gesetzesänderungen angehängt ist. Grizenko bringt ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit:

"Die politische Täuschung bestand darin, einem Gesetz über die Justiz einen ganzen Zug von Gesetzesänderungen anzuhängen. 17 Stück. Darunter die Erlaubnis, das strategisch wichtige Pipelinenetz der Ukraine in private Hände geben zu dürfen! Was per Verfassung verboten ist. Und ein Gesetz zur Abschaffung von Vergünstigungen für Lehrer, Ärzte, Veteranen, Bergleute, Polizisten, für Millionen Menschen."

Die zweite Methode sei die Umgehung des Parlaments. So habe Präsident Janukowitsch die Verfassung von 1996 wieder in Kraft setzen lassen – mit Hilfe der obersten Verfassungsrichter. Ein echter Coup! Zuerst reichten über 250 Abgeordnete der Partei der Regionen Klage gegen die Verfassungsreform von 2004 ein. Aufgrund formal-rechtlicher Fragen. Die Richter erklärten das Verfahren der Reform für verfassungswidrig. Und die komplette Verfassung damit für ungültig. Das Parlament hat dadurch – ohne einbezogen worden zu sein - einen Großteil seiner Vollmachten an den Präsidenten verloren. Für den Leiter des Ukraine Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nico Lange, ist klar:

"Es ist zu einer Stempelorganisation geworden. Das muss man mal so sagen. Erst mit dieser Änderung, dass auch individuelle Abgeordnete Koalitionen beitreten können und der Absegnung dieser Änderung durch das Verfassungsgericht. Und dann mit der Verfassungsänderung, wieder durch das Verfassungsgericht, die Verfassung von 1996 zurück zu haben, spielt das Parlament für die wesentlichen politischen Entscheidungsprozesse keine Rolle mehr."

Der Frust sitzt deshalb vor allem bei der Opposition im Parlament tief. Statt hitziger Debatten gibt es bei entscheidenden Fragen immer häufiger Handgreiflichkeiten. Fäuste, Stühle und Eier fliegen…

Viele Ukrainer schämen sich für solche Szenen, die um die Welt gehen. Und wenden sich weiter von der Politik ab. Vertreter aller Parteien haben in den vergangenen Jahren massiv an Wähler-Vertrauen verloren. Die Opposition sei von dem Negativ-Trend besonders betroffen, erklärt der Politologe Wladimir Fessenko:

"Bei einer Umfrage Ende vergangenen Jahres wurde die Frage gestellt, ob die Ukraine überhaupt eine Opposition brauche. Die Mehrheit der Wahlberechtigten hält die Opposition für wenig konstruktiv und wirft ihr vor, schlecht zu arbeiten. 30 Prozent haben gemeint, man brauche keine Opposition."

Erschwerend kommt hinzu, dass die Opposition heillos zerstritten ist. Zwar ist allen Beteiligten klar, dass nur eine einige Opposition der starken Regierung und dem mächtig gewordenen Präsidenten Paroli bieten kann. Versuche, sich zusammenzuschließen, scheitern in der Regel aber schnell an den Ambitionen der Führungsfiguren. Auch das habe sich Präsident Janukowitsch zunutze gemacht, sagt der frühere Außenminister und heutige Oppositionsführer Arseni Jatzenjuk. Er spricht wörtlich von einem politischen Blitzkrieg des Präsidenten. In kürzester Zeit sei es ihm gelungen, alle Schaltstellen der Macht mit seinen Leuten zu besetzen. Er könne – seit den umstrittenen, manipulierten Kommunalwahlen – bis auf die unterste politische Ebene durchregieren.

"Es ging schnell, bevor jemand verstand, was vor sich ging. Erst wurde eine nicht verfassungsgemäße Koalition geschaffen. Die hat dann eine nicht verfassungsgemäße Regierung gebildet. Als nächstes kam die Justizreform, was zu einer Machtübernahme im Justizwesen führte. Als nächstes waren die Massenmedien dran. Dann wurden die Gegner eingeschüchtert. Die einen werden unter Druck gesetzt, die anderen zum Überlaufen gebracht. Zum Schluss sichert das Verfassungsgericht dem Präsidenten das Recht zu, ukrainischer Zar zu sein."

Damit einher gehe eine Umdeutung der jüngeren Geschichte der Ukraine. Aus vielen Schulbüchern ist die orange-farbene Revolution, die Janukowitsch 2004 das sicher geglaubte Präsidentenamt gekostet hatte, bereits verschwunden. Auch viele Errungenschaften aus dieser Zeit sind dem so genannten "Stabilitätskurs" der Regierung bereits zum Opfer gefallen. Auch die Pressefreiheit, auf die man in der Ukraine einst so stolz war. Die Opposition kommt in den meisten Massenmedien nicht mehr zu Wort. Den verbliebenen unabhängigen, regierungskritischen Sendern werden nach und nach Lizenzen und Frequenzen entzogen - unter abenteuerlichsten Begründungen. Mit Rechtssprechung habe das alles nichts mehr zu tun, meint Vitalij Portnikow vom Sender TVI:

"Das Gericht bildet sich kein Urteil, sondern stempelt praktisch jene Beschlüsse ab, die im Arbeitszimmer von Geheimdienstchef Valerij Choroschkowskij geschrieben werden. Oder im Arbeitszimmer eines anderen Favoriten von Viktor Janukowitsch - dem Chef seines Präsidialamts, Sergej Ljowotschkin."

Dass Proteste der Bürger bislang ausblieben sind, wundert den Chef der Oppositionspartei "Front der Veränderung", Arseni Jatzenjuk nicht weiter. Das Regime verstehe es sehr gut, abzulenken von heiklen Themen, auch von unpopulären Entscheidungen. Da würden Waffen bei Nationalisten gefunden, dann warne der Innenminister vor einem Blutvergießen am Tag der Einheit. Und kurze Zeit später explodierten zwei Sprengsätze in der ostukrainischen Stadt Makejewka. Es entsteht Sachschaden. Dem Staat wird mit weiteren Bomben gedroht, sollte er sich weigern, Geld zu zahlen:

"Ist doch seltsam. Fünf Uhr morgens. Makejewka. Explosionen. Keinem passiert etwas. Keine Motive. Eine Forderung von vier Millionen Euro. Ein absurdes Theater."

Eine altbewährte Methode, um Ängste zu schüren. Und die Menschen davon abzuhalten, zu den von der Opposition angekündigten Massendemonstrationen zu gehen… Druck und Angst, sagt Julia Timoschenko, seien wieder Bestandteil der ukrainischen Politik. Bejubelt würde die harte Hand, die für Ordnung und Reformen sorge:

"Etwa vor einem halben Jahr erklärte Ministerpräsident Azarow in Anwesenheit der Presse, dass man der Ansicht sei, dass Angst zu einem Faktor in der ukrainischen Politik werden muss, auch um Einfluss auf die Gesellschaftsprozesse zu nehmen."

Deshalb gehe die Justiz auch mit aller Härte gegen die Verantwortlichen des so genannten "Unternehmer-Maidans" vor. Klein- und Mittelständler hatten Ende des Jahres auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, wochenlang gegen die Steuerreform der Regierung demonstriert. Wie zu Zeiten der orange-farbenen Revolution hatten sie eine Zeltstadt aufgebaut, die im Dezember von der Polizei mit Gewalt geräumt wurde.

Die Organisatoren müssen sich nun vor Gericht verantworten. So wie andere politische Störenfriede. Für Nico Lange und andere Beobachter ist es an der Zeit, dass sich der Westen einmischt.

"Wir haben hier noch keine belorussischen Verhältnisse, insofern könnte man sagen, so schlimm ist es nicht. Aber wir sind auf dem Weg dahin. Für mich stellt sich die Frage, was ist die Konsequenz? Heißt das, wir sollen mal warten, bis es richtig schlimm wird oder heißt das, wir müssen verhindern, dass es richtig schlimm wird."

Die Europäische Union habe, anders als bei Russland und Weißrussland die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Weil die Ukraine auch unter Führung von Janukowitsch zumindest offiziell an ihrem EU-Kurs festhält.
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