Christliches Engagement ohne Kirche

Neuanfänge müssen nicht immer ein völliger Bruch mit bekannten Werten bedeuten. Michael Vierus ist in Dresden einen solchen Weg gegangen: raus aus der Enge einer Freikirche, aber weiter angetrieben von christlichen Überzeugungen berät er heute Geflüchtete.
Ein Montagabend in Dresden. Während sich die Pegida-Anhänger versammeln, um gegen Zuwanderung zu protestieren, hat Michael Vierus ein ganz anderes Ziel. Er ist 57 Jahre alt, schlank und hat graumeliertes Haar. Sein Geld verdient er als Ingenieur. Seit drei Jahren engagiert er sich in der Kontaktgruppe Asyl. Die 15 Mitglieder der Gruppe organisieren jeden Montag ehrenamtlich eine Beratung für Geflüchtete. Sie helfen ihnen zum Beispiel beim Umgang mit den Behörden und bei sozialen Fragen.
Michael Vierus schließt sein Fahrrad an und betritt das Kleine Haus des Staatsschauspiels Dresden, das sein Foyer für die Beratung zur Verfügung stellt. Er legt Flyer in Englisch, Französisch, Arabisch und Persisch auf einen Tisch und holt zwei Bücher aus seinem Rucksack. Das eine beschäftigt sich mit Asylrecht.
"Für alle Fälle habe ich mir die Bibel eingesteckt. Die gehört von meiner Herkunft her dazu."
Besonders mag Vierus einen Spruch des Propheten Hesekiel, sagt er und kämpft mit den Tränen, weil das Thema ihn emotional berührt:
"Ich will ein neues Herz und einen neuen Geist in Euch geben und will das steinerne Herz aus Eurem Leibe hinwegnehmen und will Euch ein fleischernes Herz geben. Da ist das, was von anderen als Verschwörungshypothese geäußert wird, gefordert, von allerhöchster Stelle: Bevölkerungsaustausch. Nicht, dass andere kommen und uns ersetzen, sondern dass wir uns ändern."
Wurzeln in der ökumenischen Menschenrechts-Bewegung
Die Kontaktgruppe Asyl hat ihre Wurzeln in der ökumenischen Menschenrechts-Bewegung. Doch die Menschen, die sich heute in der Gruppe engagieren, haben kaum noch etwas mit der Kirche zu tun – mit Ausnahme von Michael Vierus. Die Grundlage für sein Tun sieht er in den Zehn Geboten:
"Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Und in der christlichen Tradition gibt’s ja durchaus die Auslegung: Alles, was du nicht selbst für dich brauchst, gehört den Armen. Da müssen wir uns schon kritisch fragen lassen, was wir da stehlen. Und dass die Leute da nicht mehr existieren können, wo sie herkommen, und zu uns kommen, dann sollte nicht unsere Reaktion sein, die Mauern und Zäune hochzuziehen."
Michael Vierus hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Seine Eltern gehören in der DDR einer evangelischen Freikirche an, den Siebenten-Tags-Adventisten. Sie entstand im 19. Jahrhundert in den USA und kam bald darauf nach Europa. Heute hat sie weltweit 20 Millionen Mitglieder. Michael Vierus' Vater ist Pastor dieser Kirche und erzieht seine Kinder nach strengen Prinzipien:
"Mein Vater und viele in dieser Gemeinde lesen die Bibel als Biologie-Lehrbuch, als Geologie-Lehrbuch, als Geschichts-Lehrbuch und so weiter. Na ja: Das hat mich schon ein Stück nicht überzeugt, dass mein Vater das so abgewehrt hat, dass er nur verächtlich über Menschen reden konnte, die eben von anderem überzeugt waren. Die persönliche Entwicklung – Pubertätszeit, Sexualität – meine Eltern konnten mir keine Gesprächspartner sein. Und die Vorgaben der Religionsgemeinschaft waren da auch nicht unbedingt hilfreich."
Demonstriert für Demokratisierung in der DDR
Michael Vierus beginnt, mit der Kirche seiner Eltern zu hadern. Da er nicht Mitglied der sozialistischen Jugendorganisationen ist, bekommt er bald auch in der Schule Ärger. Ein Studium ist nicht drin, obwohl seine Noten gut sind. Vierus macht eine Ausbildung zum Vermessungsfacharbeiter. Erst 1990 darf er sich an einer Hochschule einschreiben. Im Jahr zuvor hatte er sich an den Demonstrationen für die Demokratisierung der DDR beteiligt.
"Ein Marxismus-Leninismus-Lehrer hat in der Lehrausbildung mal gesagt: Das Christentum wird es nie wieder schaffen, an der Spitze einer gesellschaftlichen Entwicklung zu stehen. Dass das von den Kirchen dann auch wesentlich mit ausging, das war für mich ne bewegende Erfahrung."
Die Proteste, die zum Ende der DDR führen, kommen vor allem aus dem Umfeld der evangelischen Kirche. Die Siebenten-Tags-Adventisten verhalten sich nach Michael Vierus' Beobachtungen abwartend. Ein weiterer Grund für ihn, die Freikirche skeptisch zu sehen. Er liest nach der Wende Bücher kritischer Christen aus dem Westen – die tiefenpsychologischen Deutungen von Eugen Drewermann und die Texte von Dorothee Sölle, die der Friedens- und Umweltbewegung nahe steht:
"Es war nicht dieser strenge Biblizismus. Für Dorothee Sölle war auch die Tradition eine sehr wichtige Fundgrube. Und sie ist von den Problemstellungen der Jetztzeit ausgegangen. Dass ich gelernt habe: Es kann nicht religiös richtig sein, was menschlich nicht stimmt."
Auf dem Papier ein Atheist
1993 verlässt Michael Vierus die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Auf dem Papier ist er nun Atheist. Doch bis heute zieht es ihn regelmäßig zu deren Gottesdiensten und Bibelgesprächen. Schließlich gebe es in der Gemeinde nicht nur Hardliner, sondern auch aufgeschlossene Menschen, und er habe er im Laufe der Zeit Freundschaften geknüpft.
Im Foyer haben sich inzwischen mehrere Männer aus Afghanistan eingefunden. Michael Vierus und eine junge Frau aus der Kontaktgruppe Asyl füllen für sie Formulare aus und versuchen, das Behördendeutsch in einfache Worte zu übersetzen.
Michael Vierus: "Das ist Ihr erster Antrag auf Geld vom Jobcenter?"
Geflüchteter: "Keine."
Michael Vierus: "Nicht der erste?"
Vierus kämpft sich durch einen Antrag auf finanzielle Unterstützung und füllt dann für einen anderen Mann das Formular eines Kindergartens aus. Er sei schon zum zweiten Mal bei dieser Beratung, sagt der Geflüchtete:
"Weil meine Tochter beginnt in Kindergarten und die Papier bekommt zum Ausfüllung. Alle Unterlagen ist richtig ausgefüllt. Wir sind zufrieden."