Ein "erschütterndes Erlebnis"

Dirk Lorenzen im Gespräch mit Ulrike Timm |
Als die Sonne mitten am Tag vom Mond verdunkelt wurde, war dies ein "schaurig-schönes" Ereignis für Dirk Lorenzen. Vor allem die Tiere seien überrascht gewesen, berichtet der Wissenschaftsjournalist im Gespräch.
Ulrike Timm: Dirk Lorenzen ist Wissenschaftsjournalist und derzeit in China, wo er sechseinhalb Minuten lang die längste totale Sonnenfinsternis dieses Jahrhunderts erleben konnte. Schönen guten Tag!

Dirk Lorenzen: Guten Tag, Frau Timm! Ni hao!

Timm: Ni hao zurück! Es waren, nach den Meldungen, die uns erreichen, so viel Tausend, Hunderttausende, Millionen Menschen auf den Beinen in ganz Asien, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass sie erleben konnten, wie die Vögel verstummten. War das zu laut?

Lorenzen: Nein, es war nicht zu laut, man musste sich auch in China einfach nur ein bisschen aus den Städten herausbewegen, irgendwo in die Landschaft hinein. Und ich war am Ufer eines kleinen Sees und da waren viele Vögel. Die Reiher waren spürbar irritiert und flogen dann zwischendurch schon mal ab und kamen dann, als die Sonne wieder zum Vorschein kam, auch wieder zurückgeflogen. Die Hühner waren ein bisschen überrascht und ein Hofhund in der Nähe, der trottete während dieser Dunkelheit dann auch etwas irritiert herum, das hatte er selber wohl auch noch nicht erlebt. Aber als dann die Sonne wieder da war, hatten sich alle auch wieder beruhigt.

Timm: Wie dunkel war’s denn überhaupt? Handschwarz vor Augen, Dämmerlicht, wie muss man sich das vorstellen? Totale Sonnenfinsternis ist ja sehr selten.

Lorenzen: Totale Sonnenfinsternis ist sehr selten und es ist wirklich sehr dunkel, also gerade diese war sehr dunkel, weil eben auch der Schattenkegel sehr groß war, 260 Kilometer Durchmesser. Und es fängt dann ja noch ganz harmlos an, wie wir das aus Deutschland ja auch oft gesehen haben, dass so der Mond sich ein bisschen vor die Sonne schiebt, dann sieht die Sonne aus wie so ein angebissener Keks. Aber hier ging’s eben weiter, der Mond schob sich dann wirklich komplett vor die Sonne, und diese letzten Sekunden, bevor der Mond komplett die Sonne bedeckt, das ist dann wirklich so, als dreht einer am Dimmer das Sonnenlicht herunter. Es ist etwa so, es kribbelt im Bauch wie bei so einer Sturzfahrt in der Achterbahn. Und dann ist es wirklich schlagartig so dunkel, Sie sehen eben die hellsten Sterne am Himmel. Prompt haben die Chinesen, an ihren Gasthäusern sind so diese Lichterketten an den Dachfirsten und an den Regenrinnen, die wir da so zu Weihnachten ganz gern machen, haben die hier ja fast ums ganze Jahr, das wurde prompt angeschaltet, viele haben die Straßenbeleuchtung angemacht. Und es war dann wirklich sehr dunkel. Man hat dann rundherum am Horizont noch so ein ganz bisschen Dämmerfarbe gesehen, aber ansonsten war es wirklich fast nachtschwarz. Diese Finsternis war besonders dunkel, weil eben dieser Kegel, der Mondschattenkegel, eben so groß war, dass es bis zu 130 Kilometer weit, zur Mitte der Finsternis eben 130 Kilometer weit war, bis sie in einen Bereich kam, in dem die Sonne noch schien. Und dann ist es eben wirklich sehr dunkel. Man spürt dann auch die Kühle und ja, man merkt eben diesen Moment, dass, aha, die Sonne ist doch für uns sehr wichtig. Plötzlich ist sie weg, mitten am Tag, ist immer wieder ein ganz merkwürdiges, ganz erschütterndes Erlebnis.

Timm: Sie hatten ja auch Glück, Sie hatten ein Wolkenloch erwischt. Viele Menschen haben es gar nicht so gesehen, weil die Wolken sich vor die Sonnenfinsternis schoben. Was erlebt man denn dann noch?

Lorenzen: Dann wird leider nur der Regen dunkel, wie es ja viele auch 1999 in Stuttgart gesehen haben. Also da hatten wir wirklich Glück, es war ein Wechselbad der Gefühle. Es waren immer mal wieder Wolken davor und dann aber in den entscheidenden Minuten hatten wir eben ein Wolkenloch. In Schanghai, hörte ich, also in großen Bereichen war da Dauerregen. Dann gucken zwar alle nach oben und dann ist es auch wirklich fast nachtdunkel, Pagoden, alles war beleuchtet, aber dann ist eben diese Faszination, dass sie wirklich merken, jetzt ist das Licht weg und sie gucken nach oben und sehen diese pechschwarze Scheibe des Neumondes, umgeben von eben diesem wunderbaren Strahlenkranz der Sonnenkorona, dieser Atmosphäre der Sonne – all diese Effekte, die tauchen dann natürlich nicht auf. Und insofern ist es mit Regen zwar auch erschütternd und sicherlich sehr eindrucksvoll, dass es eben mitten am Tag um Viertel vor zehn dunkel wird, aber das ist überhaupt nicht mit dem zu vergleichen, was man am klaren Himmel hat, und es hat auch überhaupt nichts mit dem Dunkelwerden am Abend zu tun. Also viele meinen, Finsternis, da muss man nicht hin, es wird doch jeden Abend dunkel. Es ist überhaupt nicht zu vergleichen, es ist ein vollkommen anderes Erlebnis.

Timm: Und die Hobbyastronomen-Dichte in ganz Asien, die muss großartig gewesen sein, denn die Sonnenfinsternis wurde perfekt und weltweit vermarktet, ja, war ein großes Geschäft, oder?

Lorenzen: War ein großes Geschäft, es sind sicherlich viele da, aber dieses Mal mussten ja auch so viele gar nicht hinfahren, es war die Finsternis in der Geschichte, die die meisten Menschen praktisch frei Haus geliefert bekommen haben, denn noch nie bei einer Finsternis waren so viele Millionen-Städte innerhalb dieses sehr schmalen Schattenkegels, der eben nur 260 Kilometer breit war, aber in diesem Streifen leben eben Hunderte Millionen Menschen. Nie zuvor haben so viele Menschen den Kernschatten des Mondes erleben können, wie es eben heute Morgen hier der Fall war.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Heute am frühen Morgen erlebte Asien eine totale Sonnenfinsternis. Wir sprechen darüber mit dem Wissenschaftsjournalisten Dirk Lorenzen, er erlebte das Naturschauspiel in China. Herr Lorenzen, die Chinesen haben einen schönen Namen für das Ereignis, das ist: eine Sonnenfinsternis sei ein Himmelsdrache. War manchem da auch ein bisschen bänglich zumute?

Lorenzen: Es ist manchen bänglich zumute und gerade an diesem See, an dem wir waren, auch die lokale Bevölkerung, die zum Teil, wie man merkte, ja nicht informiert war, was da passierte, die waren dann doch hoch erstaunt. Prompt fing dann auch mancher an mit Feuerwerk, dass man einfach mit Lärm, mit Knallern versucht, dann den Mond wieder zu vertreiben, wie das ja eben auch früher immer hier schon passiert ist. Und dieser Drachen, der Himmelsdrachen, der die Sonne verschlingt, das ist ja das Schöne, das haben ja sogar die Astronomen übernommen. Denn – das hat sich bis in die moderne Wissenschaft überführt – die Astronomen glauben jetzt nicht mehr an den Drachen natürlich, der die Sonne verschlingt, aber zu einer Finsternis kommt es immer nur dann, wenn wir eben Neumond haben, wenn der Mond also Richtung, von der Erde aus gesehen, Richtung Sonne steht, und zugleich muss dann der Mond gerade auch noch genau in der Ebene der Erdbahn stehen und die Mondbahn ist so leicht gegen die Erdbahn geneigt. Und diese zwei Schnittpunkte der Mondbahn mit dieser Bahn der Erde um die Sonne, die nennen die Astronomen bis heute noch Drachenpunkte, denn nur, wenn der Mond dort steht, dann kann es zu einer Finsternis kommen. Insofern hat sich dieser alte chinesische Glaube sogar noch bis in die moderne Wissenschaft erhalten.

Timm: Und was orakelten die Unheilsverkünder, die solche Naturschauspiele immer zum Anlass nehmen, schlimmste Befürchtungen auszustoßen?

Lorenzen: Diese schlimmen Befürchtungen spielen vor allem wohl mehr bei den Hindus in Indien eine große Rolle, als es jetzt hier in China der Fall war, aber es wird natürlich immer davor gewarnt, man sagt natürlich immer hier, das wird gefährlich, man soll im Haus bleiben, man soll sich diesem schlechten Licht nicht aussetzen. Bei den Indern spielt es sicherlich eine noch größere Rolle als bei den Chinesen, aber man darf auch gar nicht sich darüber irgendwie lustig machen oder erhaben fühlen. Also ich selber weiß natürlich, was da passiert, aber immer wieder empfindet man eine Finsternis doch irgendwie als etwas sehr Merkwürdiges und etwas instinktiv doch Bedrohliches – plötzlich verschwindet die Sonne. Und ich erinnere mich sehr gut an meine erste Finsternis, die dauerte nur 45 Sekunden, da hätte man eigentlich ja traurig sein müssen, dass sie nur so kurz war, aber ich war erleichtert, als die Sonne wieder aufgetaucht ist. Also irgendwie ist in uns Menschen gespeichert, wenn die Sonne einmal aufgegangen ist mitten am Tag, hat sie da auch zu bleiben und es hat nicht plötzlich dunkel zu werden. Insofern ist dieser Aberglaube oder dieses Hineininterpretieren von eben gefährlichen Dingen durchaus verständlich. Man selber empfindet es auch immer wieder als etwas, ja, eben Erschütterndes, Bedrohliches.

Timm: Das heißt, Sie sind bei aller Wissenschaft auch ein Sonnenfinsternis-Tourist?

Lorenzen: Man ist ein Tourist, oder manche sagen’s ja noch härter, man wird dann sehr schnell süchtig – also wenn man einmal eine totale Sonnenfinsternis erlebt hat, wenn man eben einmal wirklich perfekt an dem Ort stand, über den dann dieser Mondschatten hinwegstreicht, wenn man das einmal erlebt hat, das ist eben wirklich buchstäblich schaurig-schön, und fast alle, die ich kenne, die das einmal erlebt haben, sagen, das wollen sie immer wieder erleben. Und dann hier heute eben mit diesen über sechs Minuten ist dann natürlich noch ein ganz besonderes Erlebnis. Aber der Schauer, diese Faszination ist eigentlich von der Länge unabhängig, das ist jedes Mal aufs Neue immer wieder großartig.

Timm: Die Astronomen können solch ein Ereignis exakt vorherberechnen, daher wissen wir schon, dass wir in Deutschland eine totale Sonnenfinsternis erst 2081 wieder erleben werden. Dann sind wir beide nicht mehr dabei, Herr Lorenzen, aber für heute erst mal vielen Dank für Ihre Eindrücke und für das Gespräch!

Lorenzen: Danke auch!
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