Ein Erfolgsautor

Von Barbara Lehmann · 06.12.2009
Ins Steinzeitalter zurückgebombte Geister-Städte. Ausgemergelte Gestalten, die Brennholz auf Karren schieben … Fremdenführer, die die historischen Fassaden so vergegenwärtigen, als habe es die Zerstörung nie gegeben. In Saus und Braus lebende Besatzer, die sich nach der Heimat sehnen …
Sie alle existieren noch immer, in John Dos Passos Reportagen aus dem Nachkriegsdeutschland. Der amerikanische Schriftsteller und Gelegenheitsreporter hatte einen vorurteilsfreien Blick – und vertraute der eigenen Wahrnehmung.

Dem Bestsellerautor Jonathan Littell fehlt dieses Vertrauen. Ihn verschlug es nach dem Studium als Mitarbeiter einer humanitären Organisation in das vom Krieg gezeichnete Tschetschenien. Dank einer gewaltigen Leseanstrengung verarbeitete der Yale- Absolvent die unmittelbare Erfahrung der kaukasischen Gewalt später zur kalkuliert Tabu brechenden Ich- Erzählung über die Nazi-Ära. Sein Held, der brutale SS-Offizier Max von Aue, provoziert als kultivierter Schöngeist. Gleichzeitig ist er homosexuell, masochistisch und sadistisch, inzestuös und ein mutmaßlicher Muttermörder wie Orest in der griechischen Tragödie.

Nach seinem weltweiten Erfolg mit den "Wohlgesinnten" ist Littell zum Ursprung seiner Gewalterfahrung in den Kaukasus zurückgekehrt. Im letzten Jahr führte ihn eine Reise im Begleittross der Russischen Truppen ins südossetische Konfliktgebiet. In diesem Frühjahr weilte er zwei Wochen im wieder aufgebauten Tschetschenien. Beiden Reisen folgten weltweit publizierte Reportagen, Interviews - und die blitzschnelle Vermarktung zu Büchern.

Eine erste Variante über den zu seinem Erstaunen friedlichen Alltag im wieder aufgebauten Tschetschenien verwarf Littell, als die tschetschenische Menschenrechtlerin Natalja Estimirova im letzten Juni ermordet wurde. Zu Lebzeiten befand er es nicht für wert, sie aufzusuchen. In einer hastig niedergeschriebenen zweiten Variante bildet sie nun das Zentrum seines Buches: Als Mordopfer mit hohem internationalen Aufmerksamkeitsstatus.

Reißerisch rekonstruiert Littell Estimirovas letzte Stunden. Ein gefakter Monolog konfrontiert uns gar mit ihren letzten Minuten, den Gedanken an die 15-jährige Tochter, die allein zurückbleibt. Zur Litanei um die gemeuchelte Kämpferin für das Gute gesellt sich die politisch korrekte Anklage an den Täter: Littell macht ihn dingfest im tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow.

Kadyrow hat Littell ein Interview verweigert. So hat dieser nur Gelegenheit, den Präsidenten zweimal bei offiziellen Auftritten zu beobachten. Seinen Eindruck bezieht Littell vor allem aus den Erzählungen Dritter, Fernsehauftritten Kadyrows, Fremdinterviews sowie Gerüchten. Die zentralen Passagen des Buches kreisen um Kadyrow wie die eines verschmähten Liebhabers um seine abwesende Geliebte. Das Objekt der Begierde wird dämonisiert.

Wiederaufbau, Korruption, Islamisierung, der tschetschenische Widerstand, die Rolle der Frauen, diese und andere Themen werden im Schnelldurchlauf abgehandelt. Immer wieder hebt Littell dabei zu einer Analyse an, doch deren Ergebnisse sind fragwürdig. Kadyrow ist für Littell irrtümlicherweise lediglich eine Marionette Putins, dessen Macht an die des russischen Premiers gebunden bleibe. Dass in Tschetschenien inzwischen ein von Moskau unabhängiger islamischer Staat entsteht, wird allzu oberflächlich behandelt.

Nach seiner Tschetschenienreise führte Littell Interviews mit Menschenrechtlern, Exil- Tschetschenen und Kaukasuskennern, die er ausführlich zitiert. Viele Ereignisse und Zahlen haben nur tagesaktuellen Wert oder sind nicht bewiesen, wie die von ihm beiläufig erwähnten 200.000 Kriegstoten.

Dos Passos Bilder aus dem Nachkriegsdeutschland bleiben haften - auch 65 Jahre nach ihrer Entstehung. Litells Bild von Tschetschenien dagegen ist oberflächlich und falsch. Angeblich tragen die Frauen dort alle Schleier. Es sind aber, wenn überhaupt, Kopftücher. Denn Tschetschenien ist nicht Afghanistan.

Littell und andere prominente Gelegenheitsreporter wetteifern im Tempo und Stil mit der Tagespresse und dem Internet, um gleichzeitig auf dem globalisierten Markt allzu vielen Herren zu genügen: Magazin-, Feuilleton und Politikredakteuren, den Verlegern - und einer angeblich nur an Sensationen interessierten Leserschaft. Doch wir, die Leser, haben genug von all dem Promi-Wirbel: Wir wollen endlich wieder fundierte Tatsachenberichte und Studien von Fachleuten und Kennern und Reportagen von soliden Journalisten und Literaten.