Ein berufener Verlierer

Rezensiert von Jörg Friedrich · 07.12.2008
Das Schicksal der 6. Armee und von Friedrich Paulus bewegt seit Generationen die Deutschen. Paulus wurde kaum je anders gesehen als ein General, der erst zu unfähig war, den Untergang einer Viertelmillion Soldaten zu verhindern, und der dann in sowjetischer Gefangenschaft und in der DDR obendrein noch "vom Paulus zum Saulus" wurde, indem er sich den Kommunisten in die Arme warf. Doch stimmt das Bild so? Der Historiker Thorsten Dietrich hat jetzt eine umfangreiche Paulus-Biographie veröffentlicht.
Schimpf und Schande bedecken den Namen des Feldmarschalls Friedrich Paulus, der im Winter 1942/43 Stalingrad verlor. Napoleon hat auch verloren, alles, bis auf seinen Nimbus. Vielleicht wäre Europa sein klägliches Los erspart geblieben, hätte er nur England und Russland unterworfen, wer weiß? Paulus aber ist ein berufener Verlierer; es konnte und sollte nie gut gehen, was er unternahm. Dieser schmucke, bedachte, reich talentierte, wohlmeinende, sympathische Mann war anscheinends im Irrtum daheim. Nicht gescheitert, sondern falsch geboren. Darin wiederum ähnelt er seinem Vaterland; er ist – wozu nun kaum einer mehr Lust hat – ein Deutscher vom Scheitel bis zur Sohle.

Dem jüngsten seiner Biographen steht der Unglücksmensch gebührend nahe. Torsten Diedrich gebärdet sich nicht als literarischer Henker, sondern will seinen fremden Anti-Helden gern verstehen und neigt sich ihm zu. In dieser baren Selbstverständlichkeit liegt die seltene Qualität dieses erschöpfenden Buches. Nach dem extra-exzellenten Stalingradteil versteht man tatsächlich besser, weshalb Paulus über hunderttausend seiner Soldaten in dem eisigen Kessel an der Wolga verrecken ließ. Warum hat er denn nicht sechs Wochen eher kapituliert?

Der Leser möchte den militärischen Sinn solch eines Blutopfers vielleicht gar nicht verstehen. Er lag, kurz, in der Bindung sowjetischer Kräfte, die anderenfalls die ganze deutsche Südfront zerschlagen hätten und damit den Krieg zweieinhalb Jahre früher entschieden. Ja wundervoll! Aber so kann man Geschichte nicht nachvollziehen.

Anders als die meisten der hiesigen Kollegen räumt Diedrich dem Wehrmachtsoldaten ein, dass er nicht zu Felde zieht, um raschest möglich zu verlieren, dass der Offizier seine Männer in den Tod schickt, ungewisser Vorteile wegen, und dass man vorher nicht weiß, ob es sich hinterher gelohnt hat und was es wert gewesen ist. Mit einer so reflektierten Truppe wie der Bundeswehr ist natürlich kein Krieg führbar, doch auch das muss einen nicht betrüben. Den Deutschen, die durch die zwei Weltkriege marschiert sind, schwebten indessen andere Tugendsysteme vor Augen. Ihren Gegnern übrigens auch, woran die Rote Armee. Verglichen mit einem Schlächter wie dem Marschall Schukow war Paulus butterweich. Doch ist jener ein Idol der Militärgeschichte, weil er dem Menschenfreund Stalin zum Sieg verhalf. Paulus wiederum übertrifft den getreuen Stalinisten Schukow, indem er nacheinander sowohl Hitler wie Stalin diente. Dem letzteren als reuiger Gefangener und Überläufer. Da nach beendigter Schlacht fast alle Deutschen zu der einen oder anderen Siegerseite überliefen, reagierte Paulus völlig arttypisch. Während er seine Mannschaften ihr Leben dem Führergott darbringen hieß, dünkte das seinige ihn unersetzlich.

Neun Tage vor der Kapitulation beschwor er die waffenlos gewordene, verhungerte, erfrorene 200.000-Mann-Armee:

"Haltet aus! Wenn wir wie eine verschworene Schicksalsgemeinschaft zusammenhalten und jeder den fanatischen Willen hat, sich bis zum äußersten zu wehren, sich unter keinen Umständen gefangen zu geben, sondern standzuhalten und zu siegen, werden wir es schaffen."

Als dann für den besiegten Marschall es soweit war, sich in sein Schwert zu stürzen, dämmerte ihm, dass Hitler alle verraten hatte.

Die Expedition zur Wolga war der 6. Armee eigentlich schon im September 1942 geglückt, nachdem das Rüstungs- und Transportzentrum Stalingrad durch Boden- und Luftattacken ruiniert dalag. Die riskant überdehnten Flanken des Vorstoßes, die wacklige Nachschublage geboten nun einen taktischen Rückzug in sichere Winterquartiere. Aus albernen Prestigegründen – das schildert Diedrich recht plausibel – widersetzte sich Hitler der von Paulus und der Heeresleitung empfohlenen Beweglichkeit. Der sture Haltebefehl aus Berlin verkehrte eine wohl gelungene Teiloperation in ein strategisches Fiasko. Wie vorhergesehen wurde die 6. Armee eingekesselt und mangels zureichender Entsatzkräfte zum Widerstand bis zum letzten Mann verurteilt. Den Heldentodbefehl des Führers bekam Paulus in eleganterer Verpackung. Ihm wurde der Feldmarschallsrang zuteil, denn ein deutscher Feldmarschall gibt sich nicht gefangen.

Paulus bedankte sich, streifte die Hitlerhörigkeit ab wie einen Mantel und begründete eine löblichere Tradition: die innere Wende. Er als der erste, dann folgten weitere, wechselte in den mittleren Dienst der Siegermächte, die umgedrehte Marschälle wohl zu schätzen und zu verwöhnen wussten. Immerhin agitierte Paulus bereits im Sommer 1944 über Funk die Wehrmacht, sich den Russen zu ergeben. An und für sich richtig, doch total wirkungslos.

Der Drang anzuführen, eine Rolle zu spielen, Achtung zu gebieten, Komfort zu genießen, kettete Paulus bis zu seinem Tode 1957 an die Sowjetunion und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Da diese, leicht aufgefrischt, fortexistiert und soeben Massenzuspruch erfährt, sind die Schlusskapitel über die DDR-Jahre von Friedrich Paulus ein Kitzel für sich. Weidlich bekannt ist der fliegende Wechsel der Wehrmachtsgeneralität zu den Stars and Stripes. Long, long ago! Seinerzeit irreal, doch vielleicht fernerer Zukunft zugewandt, mag die andere Koalition gewesen sein:

Im antiwestlichen Affekt entdeckten die Einheitssozialisten die – wie man heute sagt – "gemeinsamen Schnittmengen" mit den gestrandeten Nationalsozialisten. Paulus seinerseits wusste zu schätzen, dass die DDR-Uniformen die der Wehrmacht zitierten:

"Stolz sind wir auf die Nationale Volksarmee in steingrauen Uniformen, deren Farbe wir seit den Freiheitskriegen kennen. Die Angehörigen der Nationalen Volksarmee müssen wissen, was sie notfalls verteidigen sollen. Sie müssen auch empfinden, dass die rein soldatischen Leistungen ihrer Väter in zwei Weltkriegen, die nach den Worten Stalins unbestritten für eine schlechte Sache gut gekämpft haben, nicht geschmäht werden. Sie müssen aber auch klar verstehen, dass das, was jetzt militärisch jenseits der Zonengrenze geschieht und was dort von der Jugend in amerikanischen Uniformen verlangt wird, nichts mit Patriotismus zu tun hat, sondern ein Rückfall in den schlimmsten Militarismus bedeutet."

Davor bewahrt einzig die Unterstellung unter die Pax Sovietica, mit einem Tupfen Feldgrau. Die Achse Berlin-Moskau aber, welche die rotbraunen Kameraden 1955 unter Paulus’ Unstern ausheckten, rollt in eine der beliebtesten Sackgassen der deutschen Geschichte. Im Panzer wie im Coupé.

Torsten Diedrich: Paulus - das Trauma von Stalingrad. Eine Biographie
Schöningh Verlag
Torsten Diedrich: Paulus - das Trauma von Stalingrad
Torsten Diedrich: Paulus - das Trauma von Stalingrad© Schöningh Verlag