Katharina Döbler, Journalistin und Autorin in Berlin, Redakteurin bei "Le Monde diplomatique", schreibt für "Die ZEIT" und den Rundfunk. 2010 erschien ihr Roman "Die Stille nach dem Gesang".
Teure Freiheit

"Freiheit und Frechheit - ein Buchstabe Unterschied!" Das hat, scharfen Auges, der Schriftsteller Arno Schmidt erkannt. Mit Frechheit erkämpften die 68er unsere heutigen zivilgesellschaftlichen Freiheiten. Mittlerweile aber ist der Begriff der Freiheit unter die Räder gekommen.
Es war einmal, und das ist nicht so lange her, da waren Haare, die jungen Männern über den Hemdkragen wuchsen, Anlass für gewalttätige Familienstreitigkeiten und für Kündigungsdrohungen. Frauen in Jeans oder Miniröcken wurden zum Umziehen nach Hause geschickt. Und wer Bob Dylan hörte, war schon ein Rebell. Die Gründung von Wohngemeinschaften rief aufgebrachte Nachbarn und Polizisten auf den Plan.
Noch 1968 riskierten Eltern in der alten Bundesrepublik, die ihren minderjährigen Kindern sexuelle Kontakte ermöglichten, eine Verurteilung nach dem Kuppeleiparagrafen 180. Und nach Paragraf 175 waren Schwule Straftäter.
Es konnte einfach nicht so bleiben, wie es war: so eng, so grau, so unfrei. Und es blieb auch nicht so. Im Westen fielen die Sexparagrafen, die Lehrer diskutierten mit den Schülern, und die Pfarrer lernten Gitarrespielen. Die Leute diskutierten inden Fußgängerzonen über die Ostpolitik. Es sah so aus, als würde alles besser: offener, toleranter, freier.
Freiheit war die große Hoffnung der 1970er-Jahre: Freiheit als Gegenteil von Knechtschaft, Gewaltherrschaft und Zwang, aber auch von Angst und Vorurteilen und Konventionen. Freiheit und Fortschritt, das war gefühlt dasselbe.
Freiheit der Märkte ist keine Freiheit
Inzwischen hat die Vokabel "Freiheit" keine Konjunktur mehr, als sei Freiheit etwas, das wir schon hätten. Oder etwas, das uns nicht interessiert. In einem bestimmten Kontext allerdings ist immer noch, und maßgeblich, von Freiheit die Rede: wenn es um Märkte geht, um Handel, um Kapitalverkehr. Als sei die ökonomische Freiheit die eigentliche und einzig relevante.
Diese semantische Verschiebung begann Mitte der 1980er Jahre, als im Westen unter Maggie Thatcher und Ronald Reagan ein neuer Idealtyp des Bürgers auftrat, der keine bunten Hosen trug, sondern edle Anzüge mit roten Hosenträgern darunter. Er (und immer mehr auch sie) verkörperte einen Lebensstil, der Hedonismus und äußersten Leistungswillen in sich vereinigte: Designerluxus, teure Drogen, hochbezahlte Jobs, viele davon im rasant wachsenden Finanzsektor.
Als dann im europäischen Osten aus einer Handvoll Bürgerrechtlern eine Massenbewegung hervorging, die zunächst Freiheit, zunehmend aber auch Konsum verlangte, und beides miteinander verschmolz, da verschoben sich auch im Westen die Gewichte noch mehr.
Jetzt haben wieder Führerfiguren das Sagen
Ideale galten nach dem Mauerfall als peinlich und gefährlich. Alte 68er vollzogen öffentlich Bußübungen für ihre einstigen emanzipatorischen Bestrebungen, als hätte ihr jugendlicher Wunsch nach Freiheit je etwas mit den sadistischen Oberlehrer-Regimes des Ostblocks zu tun gehabt. Unter diesen Vorzeichen hörte "Freiheit" auf, ein sozial oder politisch relevanter Begriff zu sein. Oder gar ein utopischer. Freiheit schrumpfte zu einer bloßen Funktion von Kaufkraft, zu einer Beliebigkeit ohne jeden sozialen und emotionalen Nährwert.
Keine der schmutzigen und extrem polarisierten Wahl- und Referendumskampagnen dieses Jahres bediente sich noch dieses entwerteten und diskreditierten Begriffs. Stattdessen scharen sich die Wähler überall auf der Welt um Führungsfiguren, die etwas versprechen, was man nicht kaufen, aber vielleicht erzwingen kann: Gerechtigkeit, Sicherheit, religiöse und nationale Identität.