Von Glück und Ausbeutung
Kulturelle Bildung soll Kinder und Jugendliche inspirieren und Randgruppen Teilhabe ermöglichen. Geleistet wird diese Arbeit meistens von freien Honorarkräften. Armut und Ausbeutung sind gang und gäbe − doch die Basis wehrt sich.
"Ich hatte mal so ein Projekt mit den ganz harten Fällen in Schwedt. Da waren 15 Jugendliche, von denen sich irgendwie acht bei der Begrüßungsrunde als Adolf Hitler vorgestellt haben und die eine Konzentrationsspanne von zehn Sekunden hatten, danach flog die nächste Flasche oder der nächste Stuhl oder der Nächste bekam einen Nackenklatscher. Am Anfang!"
Rainer ist Ethnologe. Seit über 15 Jahren arbeitet er in der Kulturellen Bildung. Das heißt, er arbeitet mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht während des Unterrichts, sondern außerschulisch. Rainer ist kein Lehrer und kein Sozialpädagoge. Er vergibt keine Noten und muss keine Prüfungen abhalten. Rainer kommt als Impulsgeber von außen und wird nur projektbezogen eingesetzt. So entstehen Filme, Bücher, Radiobeiträge, Foto-Ausstellungen, Konzerte oder Theateraufführungen und vieles mehr. Die Kinder und Jugendlichen machen Kunst:
"Und das waren die ganz Harten. Am Ende sind wir mit denen auf Tournee gegangen. Filmfestival hier, Oberstufenzentrum da, Gymnasium da. Diese Kids, also diese echt harten Jungs, die saßen plötzlich ganz ruhig da und haben erzählt aus ihrem Leben vor Gymnasiasten. Und du denkst dir: 'Hey, was ist mit denen passiert?!' Und das war unsere Arbeit. Jetzt mal Eigenlob!"
Rainer ist wie alle, die in der Kulturellen Bildung arbeiten, ein Glücksfall. Er liebt seine Arbeit, Projektideen hat er immer mehr als genug. Seine Leidenschaft steckt an. Und das ist das Beste an Menschen wie Rainer oder Sabine oder Yarik oder wie sie alle heißen mögen: Sie sind für die Institutionen, die ihre Leistung in Anspruch nehmen, nicht teuer. Öffentliche und private Förderprogramme sorgen dafür, dass außerschulische Bildung für die Teilnehmer immer kostenlos ist.
Wie die Kulturelle Bildung geboren wurde
"Wir wollten nicht in unserem Zeichensaal sein. Das ist also der Hintergrund. Wir wollten raus ins Leben."
Wolfgang Zacharias ist im Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und JugendbildungBundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) Mitherausgeber des Handbuchs für Kulturelle Bildung, Honorarprofessor für Kultur- und Spielpädagogik. Aber vor allem hat er in den frühen 70er-Jahren die Kulturelle Bildung mit-erfunden:
"Dann war dieses wunderbare vier-, fünfjährige freie Studium an der Kunstakademie. Ich war auch in Stuttgart und in Paris, aber hauptsächlich in München. In München habe ich dann das Kunstpädagogische Examen gemacht und dann in die Schule ... Also dieser Schock, das ist auch bekannt, sozusagen der Schul-Schock. Anders als die Germanisten oder die Mathematiker, die Lehrer werden, kamen wir aus einem sehr freien und offenen Studium."
Wir befinden uns im schwarzen Bayern. Im roten München. Anfang der 70er-Jahre. Wolfgang Zacharias und seine Mitstreiter sind nicht nur frisch diplomierte Kunsterzieher, Gymnasiallehrer. Sichere Stellung. Gutes Gehalt. Ein ordentlicher Beruf. Sondern sie sind auch Künstler mit Brief und Siegel. Das ist doch was! Aber Wolfgang und seine Kollegen sind unglücklich. Schule. Lernen. Bildung. Das System engt ein. Kunst und Freiheit finden hier nicht statt. Die Gesellschaft ist irgendwo anders. Sie fühlen sich in ihrer Rolle als Wissende, als Notengeber und Menschenkinder-Erzieher nicht wohl. Wie muss es da erst den Schülern gehen?
Wolfgang Zacharias und seine Kollegen lassen sich von Schuldienst beurlauben und beginnen, eigene freie Projekte umzusetzen. Nicht, um Bildung zu vermitteln, sondern um gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen Neues zu erleben. Sie wollen nicht die Welt aus den Angeln heben. Sondern viel eher jeden einzelnen Menschen dazu befähigen, sich selbst wahrzunehmen. Wir alle, Kinder wie Erwachsene, sind handelnde Subjekte!
"Naja, und das war eigentlich das total Spannende, wir waren eine Gruppe, dass wir dann erlebt haben, dass das, was wir da mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam im öffentlichen Raum machen konnten, dass das viel spannender, befriedigender sowohl für uns als auch für die Kinder und Jugendlichen ist als die 45 Minuten oder 60 oder die 90 Minuten Einheit mit Benotung. Das war sozusagen der Ursprung."
Die Kulturelle Bildung war geboren. Seitdem ist sie zu einer festen Größe im Bereich der außerschulischen Bildung geworden. Kulturelle Bildung findet statt. Aber nicht überall und nicht mit allen und für alle.
"Es sind immer Projekte, Projekte, Projekte. Wir sprachen aber schon immer, früh auch, als Vision von systematischen Strukturen, die eigentlich alle Kinder und Jugendliche erreicht, so wie es der Anspruch der Schule ist."
Kulturelle Bildung richtet sich heutzutage überwiegend an Randgruppen. Kein Programm spricht sich explizit dafür aus, alle Kinder erreichen zu wollen.
"Ja, hallo ..."
"Hallo Eva, hier ist Maren. Ich wollte mich mal erkundigen, wie es mit deinem Projektantrag läuft."
"Oh ... Ja, ähm. Also eigentlich ganz gut. Ich habe ja ziemlich viel Werbung gemacht und gesagt, dass es mir darum geht, dass sie Interesse an dem Projekt haben, und dann würde ich mich um die Förderung kümmern. Und dann hat sich auch wirklich sehr schnell eine Schule gemeldet. So jetzt habe ich aber das Problem, ich weiß einfach nicht, wie ich nachweisen soll, dass diese Schüler sozial benachteiligt sind oder nicht genug oder aus bildungsfernen Elternhäusern kommen. Und jetzt muss ich eben, weil ich einfach nicht weiß, in welches Förderprogramm ich das reintüten kann, muss ich eben jetzt den Direktor morgen anrufen und ihm absagen."
"Hallo Eva, hier ist Maren. Ich wollte mich mal erkundigen, wie es mit deinem Projektantrag läuft."
"Oh ... Ja, ähm. Also eigentlich ganz gut. Ich habe ja ziemlich viel Werbung gemacht und gesagt, dass es mir darum geht, dass sie Interesse an dem Projekt haben, und dann würde ich mich um die Förderung kümmern. Und dann hat sich auch wirklich sehr schnell eine Schule gemeldet. So jetzt habe ich aber das Problem, ich weiß einfach nicht, wie ich nachweisen soll, dass diese Schüler sozial benachteiligt sind oder nicht genug oder aus bildungsfernen Elternhäusern kommen. Und jetzt muss ich eben, weil ich einfach nicht weiß, in welches Förderprogramm ich das reintüten kann, muss ich eben jetzt den Direktor morgen anrufen und ihm absagen."
Mitten im Projektantragsdschungel
Im Pressetext von "Kultur macht stark" heißt es:
"Mit dem Programm fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung außerschulische Maßnahmen der kulturellen Bildung für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche von 3 bis 18 Jahren. Nach aktuellem Stand werden etwa 360.000 Kinder und Jugendliche in den Projekten erreicht. Das BMBF stellt dafür bis zu 230 Millionen Euro bereit. Damit ist 'Kultur macht stark' das größte Förderprogramm zur kulturellen Bildung in Deutschland."
Förderprogramme schießen wie Pilze aus dem Boden. Hier keimt "Demokratie leben!", das Programm des Familienministeriums, daneben blüht Vodafone mit dem Buddy-Programm, die "Werkstatt Vielfalt" der Robert-Bosch-Stiftung wächst und gedeiht, Theorien zur Arbeit mit marginalisierten Kindern flattern herum, Weiterbildungs- und Beratungszentren ranken sich nach oben ans Licht, und unten gluckern verborgen die Geldflüsse. Entstanden ist ein Dschungel. Ein Projektantragsdschungel.
Die großen privaten Stiftungen haben deswegen sogar einen Rat für Kulturelle Bildung ins Leben gerufen. Sie sprechen von einem Markt. Sie wollen Auswüchse eindämmen, den Dschungel in Ordnung halten und politisch Einfluss nehmen. Kritische Käfer beißen den Rat. In der Kulturellen Bildung rauscht und raschelt es immer irgendwo. Es gibt nur eine Konstante: Alle Programme übernehmen keine Personalkosten und gehen davon aus, dass zur Durchführung der Projekte Honorarkräfte eingesetzt werden.
Glücksfälle bei der Arbeit
"In einer dritten Klasse war ein Junge dabei, ich würde mal sagen, der war hochproblematisch."
Rainer beschreibt eine Situation, wie sie ganz typisch ist für die Arbeit dieser vielen Glücksfälle der Kulturellen Bildung. Projektarbeit meint, dass die Teilnehmer gemeinsam Entscheidungen treffen. Aufgaben werden verteilt. Alle sind von Bedeutung. Der Prozess steht im Forderung, nicht das Produkt. Das Lernen verändert sich:
"Die Lehrerin meinte gleich nach dem erste Tag: 'Nee, der muss da raus, der lenkt die anderen ab und stiftet Unruhe.' Und wir haben dann wirklich gesagt: 'Nee, lass uns das versuchen, wir kriegen den schon irgendwo eingebaut ins Projekt.' Und als es darum ging, dass alle für den Trickfilm Figuren ausschneiden sollten, gestalten sollten, da hat er ein Mammut gemalt, beklebt, ausgeschnitten und das Mammut, das hatte einen richtigen Ausdruck, richtig ein gutes Mammut. Die anderen Kinder in der Klasse waren total begeistert und haben gesagt: 'Hey, wow, was für ein Spitzen-Mammut.' Und als es dann wirklich so um die ganz kniffligen Sachen ging, zum Beispiel hatten wir dann eine Geschichte 'Wie die Höhlenmalerei entstanden ist', wo man in dieser Stopp-Motion-Animation eben einen kleinen Strich macht, ein Foto, dann wieder einen kleinen Strich, Foto und er war zum Schluss derjenige, der am längsten durchhalten konnte und am belastungsfähigsten war aus irgendeinem Grund, und der liegt, glaube ich, wirklich darin, dass man ihn an einer Stelle gekriegt hat, wo er Interesse hatte, wo er eine Wertschätzung bekommen hatte, wo er einfach sagt: 'Okay, ich habe hier meine Funktion, meinen Wert erkannt und ich bringe mich ein.'"
Natürlich ist die Haltung der Honorarkräfte kein hundertprozentiger Garant für den Erfolg. Sehr oft ist es so, dass Schulen die Arbeit der Glücksfälle eher stört, dass Eltern sich für die Kunst ihrer Kinder wenig interessieren oder dass ein Projekt einfach nicht so läuft wie gedacht. Nicht jede Kopfschmerztablette vertreibt jede Art von Kopfschmerzen und nicht jedes Projekt mit marginalisierten Jugendlichen führt zum gewünschten Ergebnis. Honorarkräfte sind darauf eingestellt. Sie bringen dieses bestimmte Interesse an der inhaltlichen Auseinandersetzung bereits mit:
"Auf alle Fälle braucht es eine Doppelqualifikation. Du brauchst unbedingt eine Fachliche, die ganz unterschiedlich ist. Ob das jetzt Musik oder Tanz oder Filmen oder was auch immer ist, also diese Qualifikation, und du brauchst eine vermittlungs- und kommunikative Qualifikation, also nicht unbedingt, ich sage jetzt nicht gleich grad pädagogisch. Und diese Doppelqualifikation, die muss in deiner Person eine Einheit eingehen."
Kulturelle Bildung ist keine Nebentätigkeit. Sie verlangt den Honorarkräften viel ab und passt nicht für jeden Künstler:
"Ich glaube, man muss auch dazu berufen sein oder dafür geeignet sein, denn sonst hält man es nicht lange aus. Und wenn man mit der falschen Haltung ran geht, wenn man nicht sagt: 'Ich weiß, was ich tue, ich weiß, warum ich das tue', dann ist man nach einem Projekt draußen. Das ist doch klar. Oder man kann vielleicht drei Projekte überleben, dass es nicht auffliegt. Aber dann nur mit Nerven am Ende. Weil man sich ja doch nicht verwirklichen konnte mit diesen Idioten von Schülern. Die können ja nicht mal mhmhm. Und wenn man dann irgendwann merkt, okay: 'Es geht nicht um mich, es geht nicht um mein künstlerischen Ausdruck', sondern es geht um den künstlerischen Ausdruck der Kinder und man befördert das nur, das ist ja das eigentlich Interessante."
Latente Ausbeutung
Projektarbeit ist prozessorientiert. Die Akteure stehen im Zentrum. Partizipation ist die Basis. Kulturelle Bildung eignet sich demnach eigentlich nicht für einen Markt. Die Tätigkeit ist zu indifferent. Aber woran soll denn der Wert dieser Künstler-Honorarkraft bemessen werden, wenn doch die ganze Arbeit ein Gemeinschaftswerk darstellt und sie selbst kein eigenes Produkt herstellt?
"Diese Szene hat kein systematisches, öffentliches Berufsbild, das anerkannt wird auch auf der Ebene der Finanzierung. Es lebt zum Teil von den latent ausgebeuteten freien Mitarbeitern."
Nobert Sievers ist wie Wolfgang Zacharias einer, der sich für die Anerkennung der Kulturellen Bildung einsetzt. Kulturelle Bildung bedeutet "Teilhabegerechtigkeit", sagt er. Sievers ist der Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft, Geschäftsführer des Fonds Soziokultur, ständiger Gast im Kulturausschuss des Deutschen Städtetages und und und:
"Das wäre unsere Philosophie als Kulturpolitische Gesellschaft und die ist auch in der Kulturellen Bildung bei den allermeisten Akteuren vorherrscht. Also Kulturelle Bildung als ein Instrument zur Persönlichkeitsentwicklung. Natürlich zu einer Persönlichkeitsentwicklung mit einem bestimmten Ziel, da ist ein bestimmter Persönlichkeitsbegriff damit verbunden, der mit unserer offenen, demokratischen Gesellschaft zu tun hat."
Nur wer es wichtig findet, vom Subjekt aus zu denken, versteht, was er tut. Und wer vom Subjekt aus denkt, kommt wie von selbst darauf, dass jeder Mensch einen eigenen Blick auf die Welt hat. Ich sage nicht: "Das ist Kunst", sondern ich frage mein Gegenüber: "Was interessiert dich"? "Teilhabegerechtigkeit" meint demnach nicht, dass alle Kinder wissen müssen, was die Leitkultur für wichtig hält. Oder vielleicht doch? Ist die künstlerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Fahrrad wirklich genauso bedeutungsvoll wie der Besuch der Gemäldegalerie? Ist es nicht doch für alle Menschen wichtig, einmal einen echten Rembrandt gesehen zu haben?
Ja. Vielleicht. Aber was, wenn ich über so ein Fahrrad-Kunst-Projekt Lust bekomme, meinen Erfahrungsspielraum zu erweitern und dann rein zufällig vor dem Eingang zu eben diesem Museum lande? In der Kulturellen Bildung steht das Subjekt im Zentrum. Wissen lässt sich nicht verordnen. Die persönliche Neugierde muss geweckt werden.
"Ich wehre mich ja immer gegen die Dominanz des Begriffs 'künstlerisch'. Ich sage Ästhetik. Wenn, dann der weite Ästhetik-Begriff, der ja Gott sei Dank beides hat. Die sinnliche und die künstlerische Dimension. Aber als Außenposten. Zwischendrin passiert's."
Theorie und Praxis beherrschen
Honorarkräfte müssen nicht nur gute praktische Arbeit leisten. Sie sollten immer auch gute Theoretiker sein. Ehe ein Projekt mit Kindern startet, muss ein schriftlicher Antrag eine Kommission, eine Jury, einen Beirat überzeugt haben. Dabei gilt: Es gibt kein Programm – weder von der Bundesregierung noch von privaten Stiftungen –, welches das Antragsschreiben vergüten würde. Dafür ist einfach kein Geld vorgesehen. Antragschreiben ist eine hoch komplexe Freizeitaktivität. Sei innovativ. Sei nachhaltig. Sei Modellprojekt. Sei Heilmittel. Sei besser als alles, was schon da ist. Sei preiswert und klug.
"Wir haben heute die Projektform, die ja früher mal gedacht war als Ausnahme. Das also eine Einrichtung, wie eine Musikschule oder wie eine Schule und so weiter, dass man sagte: Wir stellen uns mal außerhalb unseres normalen Alltags und überlegen mal in einem zeitlich befristeten Rahmen mit einem bestimmten Thema, was man sonst noch machen kann oder wie man unseren Alltag verändern kann. Daher kommt eigentlich die Experimentierklausel, die heute immer noch in den Förderrichtlinien steht, dass das experimenthaft sein soll, zu Innovationen führen soll."
Jutta, die wie auch Aziz, Kerstin oder Phung sowohl Anträge schreibt als auch Projekte durchführt:
"Also wenn ich eine Projektidee habe und was ja schon passiert ist, dass es wirklich ein halbes Jahr gedauert hat, also bis der Antrag dann also genehmigt war und dann muss man ja manchmal auch so ein bisschen Sachen verändern. Und in diesem halben Jahr nehme ich Kontakt auf zu der Institution, mit der ich arbeiten will, und merke, ja okay, das muss ich noch anpassen, also verändere ich den Antrag wieder, verändere die Kalkulation, stelle fest, dass vielleicht zu wenig Leute oder zu viel Leute dabei sind, dann muss ich die Finanzen wieder verändern und so weiter und so fort. Also, einige Anträge sind schnell geschrieben, andere brauchen länger."
Und nicht jeder Antrag wird bewilligt! Drei Anträge schreiben, einer kommt durch. Vielleicht. Wer weiß? Die Glücksfälle der Kulturellen Bildung, Menschen wie Jutta, Selma und Mossim, haben sich auf diese Situation eingestellt. Sie rechnen sich die Stunden, die das Antragschreiben dauert, nicht aus. Sie bleiben realistisch: Wer Gutes tut, muss nachweisen, dass er wirklich nur Gutes tut ... für Andere.
"Heute ist Projektform zur Normalarbeit geworden, wenn man so will, in diesem Feld. Weil alle in Projektform arbeiten und die eben dazu führt, dass wir viel mehr Wettbewerb haben, dass wir auch Stress dadurch haben, auf allen Seiten. Bei den Leuten, die die Mittel vergeben, bei den Leuten, die die Mittel in Empfang nehmen, die in den einzelnen Feldern arbeiten. Überall entsteht Stress, weil man nicht nur ein Projekt macht, sondern weil man mehrere nebeneinander hat, weil man keine Grundsicherung hat und weil das Zuwendungsrecht auch gar nicht so gebaut ist. Das ist für diese Situation gar nicht ausgelegt, dass man da vernünftig und fair fördern könnte. Die gehen ja auch immer noch von der alten Philosophie aus: Die haben eigentlich Geld, die sind grundfinanziert und brauchen mal für eine Geschichte zusätzlich Mittel."
Honorarkräfte schreiben Folgendes auf ihre Rechnung: Von der Umsatzsteuer befreit nach Paragraph 19. Roger, Hans, Myriam, Sophia. Sie alle fallen unter die Kleinunternehmerregel. Ihr Jahreseinkommen liegt unter 17.900 Euro. Theoretisch sind das maximal 1500 Euro im Monat – und realistisch gerechnet 1200 Euro im Monat für eine Arbeit, die einen Einsatz von 40 Wochenstunden verlangt und in der Regel ein abgeschlossenes Hochschulstudium voraussetzt. Für die Honorarkräfte der Kulturellen Bildung gilt: Armut als Programm.
Die Basis organisiert sich
Während Menschen wie Sievers und Zacharias auf politischer Ebene versuchen, die verheerende Situation der Honorarkräfte zu ändern, wird die Basis ebenfalls aktiv. Maike, Stefanie und Anne haben deswegen schon vor vielen Jahren einen gemeinnützigen Verein gegründet. So können sie anders auftreten und größere Fördertöpfe anzapfen. Der Verein läuft mit drei festen Stellen und einer stabilen Gruppe an Honorarkräften. Unternehmerisches Denken ist wichtig. Öffentlichkeitsarbeit schafft Aufmerksamkeit:
"Die Lobby ist halt nicht da. Wer nicht ruft, da wird es auch oben nicht gehört."
Und Maike, Stefanie und Anne wollen Veränderung! Sie finden es gut, dass mehr und mehr Honorarkräfte sich zusammenschließen. Der Austausch der Honorarkräfte untereinander ist wichtig. Nur so kommen die Fehler in den Programmen überhaupt ans Licht:
"Dieses Projekt in Schwedt war ein Supererfolg. Die Kinder hatten gesagt 'Was? Jetzt ist vorbei. Geht ihr jetzt?' − Dann haben wir gesagt: 'Naja, das Programm ist aus. Also das Projekt ist jetzt zu Ende.' − ‚Ach nee, kommt, wir denken uns noch was aus.' Die Kinder. Von sich aus! Diese neonazi-gewaltbereiten Kinder sagten, die Jugendlichen sagten: 'Nein, kommt. Lasst uns was zusammen weitermachen.' Ein Traum, oder? Ein absoluter Traum. Wir haben also mit denen zusammen ein Konzept entwickelt, was man machen könnte in Schwedt, haben dann das bei der einen Stelle eingereicht. Ist abgelehnt worden mit der Begründung: Sie fördern keine Strukturprojekte. Wiederum mit diesem gleichen Ding: Innovativ und nicht zweimal das Gleiche."
Rainer hat sich dann noch an andere Institutionen gewendet. Aber das Projekt wurde nicht genehmigt. Der Traum ist aus. Die Nachhaltigkeit, die beinahe alle Programme im Antrag formuliert wissen wollen, ist nur eine Worthülse. Maike und Stefanie beschreiben Ähnliches:
"Wir dürfen gar nicht reinschreiben, dass wir einen Ansatz haben. Wir müssen jedes Jahr wieder ein ganz neues Projekt machen."
"Also, das soll ein Modellprojekt sein und das wird auch evaluiert und das soll auch nachhaltig sein. Also es soll danach auch weitergehen. Aber es wird danach nicht weitergehen. Weil ja alle sagen: Das wurde aber schon mal gefördert. Ist ja ein Folgeprojekt, und der Ansatz muss aber auch erforscht sein. Der muss ja auch klappen. Das muss evaluiert und erforscht sein und es muss trotzdem ein Modellprojekt sein. Weil, das widerspricht sich im Grunde auch und es müssen immer wieder neue Jugendliche sein. Die dürfen nicht nächstes Jahr wiederkommen."
Mandy, Absolventin der renommierten Schauspielschule Ernst Busch, ist keine, die es einfach nicht auf die Reihe kriegt. Seit 13 Jahren arbeitet sie in der Kulturellen Bildung. 13 Jahre Berufserfahrung! Sie erarbeitet mit Kindern und Jugendlichen Theaterstücke innerhalb der Schulhortzeiten. Auf diese Weise kann sie länger als andere Honorarkräfte mit den Kindern zusammenarbeiten. Sie hat also einen Jahresvertrag bei einem freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Das ist gut. Aber Mandy schafft es nicht, auf genügend Wochenarbeitsstunden zu kommen. Nicht, weil sie unfähig ist. Sondern es ist ganz einfach unmöglich:
"Man kann nicht am Stück arbeiten. Man macht ja Kurse, die sind ja sozusagen eingetaktet entweder im Ganztag oder im Hortsystem bei den kleineren Kindern. Man bekommt zugewiesen. Man kann da nur am Tag, das hört sich jetzt lächerlich an, aber was soll man denn tun? Man kann nur eineinhalb Stunden oder zwei Stunden am Tag arbeiten. Ja. Mehr bekommt man nicht."
Es ist nicht so, dass einzelne Künstler, die zu wenig verdienen, einfach mal an Schulen ihre Kunst anbieten. Der Ganztag ist ein bundesweites Projekt, um unter anderem Bildungsbenachteiligung abzubauen. Teilhabegerechtigkeit für alle Menschen ist politisches Programm.
Im Fall von Menschen wie Mandy wird diese Forderung nach Teilhabegerechtigkeit auch wirklich umgesetzt. Wenn auch auf etwas seltsame Art und Weise: Da Mandy als Honorarkraft nicht genügend verdient, wird sie vom Jobcenter als Aufstockerin finanziell unterstützt. Mandy ist kein Einzelfall. Viele Honorarkräfte gehen diesen Weg. Das System funktioniert. Von ihrem kärglichen Stundensatz könnte Mandy niemals die Fahrtkosten zu den Schulen selbst bezahlen. Aber – der Berlinpass, ein Sozialausweis macht es möglich – jetzt hat sie ein Anrecht auf preiswerte Tickets und weitere Vergünstigungen. Wie andere Honorarkräfte kann Mandy nun teilhaben.
Ein Aushängeschild für die Geldgeber
"Hallo Eva!"
"Hallo Maren. Du, wir sind doch noch immer auf der Suche nach so einem längerfristigen Projekt-Förderpartner, und da habe ich mich jetzt mal umgeguckt und bin auf die Deutsche-Bank-Stiftung aufmerksam geworden und da habe ich was echt Seltsames entdeckt. Unter dem Menüpunkt 'Service für Projektpartner', pass mal auf, ich lese vor, was da steht: "Als Service für unsere Projektpartner der Deutschen-Bank-Stiftung steht unser Logo zum Download in Farbe und Schwarzweiß zur Verfügung." Was sagst du dazu?
"Als Service ..."
"Ja. Das ist der Service."
"Das ist ja krass."
"Hallo Maren. Du, wir sind doch noch immer auf der Suche nach so einem längerfristigen Projekt-Förderpartner, und da habe ich mich jetzt mal umgeguckt und bin auf die Deutsche-Bank-Stiftung aufmerksam geworden und da habe ich was echt Seltsames entdeckt. Unter dem Menüpunkt 'Service für Projektpartner', pass mal auf, ich lese vor, was da steht: "Als Service für unsere Projektpartner der Deutschen-Bank-Stiftung steht unser Logo zum Download in Farbe und Schwarzweiß zur Verfügung." Was sagst du dazu?
"Als Service ..."
"Ja. Das ist der Service."
"Das ist ja krass."
Öffentliche private Förderinstitutionen schmücken sich gerne mit den Ergebnissen der Kulturelle Bildung. Die Leistung der Honorarkräfte ist mit der letzten beglichenen Rechnung dann ... draußen.
"Also ich gehe in meiner Freizeit auch noch Babysitten. Äh, nicht in meiner Freizeit. Sondern ich schreibe in meiner Freizeit Anträge und gehe Babysitten und manchmal, wenn ich Glück habe und die Kinder schlafen rechtzeitig, dann kann ich in der Zeit Antrag schreiben."
Rainer, Helene, Wolfgang, Marlene, Norbert, Mossim, Uta, Halil, Lilly sind Glücksfälle für die Kulturelle Bildung.
"Letztendlich, wenn man denkt, was der Kern der Arbeit ist, das ist halt eigentlich Freiheit."
Alle Förderprogramme fordern Nachhaltigkeit, wollen diese aber nicht finanzieren. Sie wünschen sich innovative Ideen mit Modellcharakter, bezahlen aber deren Entwicklung nicht. Sie schreiben Diversität ins Programm, wollen aber nur Kinder aus nachweislich sozial benachteiligten Haushalten. Jede Abweichung im Finanzplan wird geahndet. Das Ziel ist die Einhaltung der selbst aufgestellten Regularien. Das Programm läuft gut, wenn das Programm gut läuft. Könnte es sein, dass es den Förderinstitutionen gar nicht um so etwas wie Freiheit geht?
"Die Frage ist: Wer macht denn so was freiwillig? Wer begibt sich denn freiwillig in so eine prekäre Situation, dass er sagt: Ich bin von einem Tag auf den anderen ohne Butter auf dem Brot. Außerdem ist alles komplett unsicher. Ich weiß gar nicht, was mich da erwartet, welche schwierige Klasse da kommt, ob ich sofort da reinkomme, kann auch sein, dass ich sage: Oh Mann, ist das eine Qual hier so. Die Frage ist: Wer tut sich das an?"
Honorarkräfte tun sich das an. Und sie tun es, weil sie ganz genau wissen, wie Kulturelle Bildung funktioniert. Punkt. Ausrufezeichen. Nein. Ausrufezeichen weg. Nur Punkt.
"Ich verweigere mich jeglichem 'um zu'! Weil, das ist doch der künstlerische Prozess, der ist der Entscheidende. Nicht, damit die dann irgendwas werden oder so. Sondern im künstlerischen Prozess liegt ja sozusagen dieses Ermächtigende. Wenn er frei bleibt von den ganzen Verzweckungen, die da alle stattfinden. Und das finde ich eigentlich das Entscheidende. Also nicht mit der Brille hinkommen, damit die jetzt alle noch bessere Menschen werden oder die müssen jetzt integriert werden oder was weiß ich. Sondern einfach nur, es zu schaffen und das einfach nur ist jetzt mit einer riesengroßen Ironie, weil, das ist natürlich das Schwerste überhaupt scheinbar, das Kind so zu betrachten: Du bist der Künstler, du bist die Künstlerin und ich folge dir. Ich stelle mich dir zur Verfügung und baue dir die Bedingungen und hau dich frei von dem ganzen Mist, der das verhindert. Das ist meine Aufgabe. Für dich. Und ich bin für dich da und wir versuchen, das in Gang zu kriegen, dass die Kinder in Gang kommen, dass die halt künstlerisch arbeiten können."
"Ich denke, man könnte vieles, sehr, sehr viel unkomplizierter machen.
"Aber woher kommt das Komplizierte?"
"Ich glaube, dass da sehr viele Leute daran verdienen.
"Aber das sind nicht die Honorarkräfte."
"Nein. Das sind nicht die Honorarkräfte. Nein."
"Aber woher kommt das Komplizierte?"
"Ich glaube, dass da sehr viele Leute daran verdienen.
"Aber das sind nicht die Honorarkräfte."
"Nein. Das sind nicht die Honorarkräfte. Nein."