Kyra Wilder: "Das brennende Haus"

Zwischen Mutterglück und Wahnsinn

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Auf einer orangefarbenen Aquarellfläche ist das Buchcover von "Das brennende Haus" zu sehen.
Die Hölle sind die anderen: Kyra Wilders Debütroman "Das brennende Haus". © S. Fischer / Deutschlandradio
Von Meike Feßmann · 12.12.2020
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Dem Genre der Familienhöllenprosa ordnet unsere Kritikerin den Debütroman von Kyra Wilder "Das brennende Haus" zu. Das Buch entpuppt sich aber als weitaus mehr als eine kleine Familien-Aufstellung mit panischer Mutter-Maus.
Wenn sie mit ihrer Mutter in den Staaten telefoniert, legt sich die Erzählerin gerne ins kleinste Zimmer der ohnehin kleinen Wohnung. Es soll einmal das Gästezimmer werden, ganz in Weiß, "absolut perfekt", noch aber ist es ein leerer Raum, dessen Boden sie häufig ölt. Irgendwann wird sich dort der Abfall sammeln.
Die Ich-Erzählerin, der Klappentext nennt sie Erika, im Roman selbst bleibt sie namenlos, ist mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern aus den USA nach Genf gezogen. Vor dem Umzug haben sie alles verkauft, das Haus leer geräumt und eine riesige Abschiedsparty gegeben. Warum alten Ballast mitschleppen, wenn ein Neustart bevorsteht?

Der Blick auf andere weckt Sehnsüchte

Der Ehemann macht Karriere, wird immer wichtiger, so zumindest sieht es aus. Bald ist er unabkömmlich in seiner Firma, eine Geschäftsreise reiht sich an die andere. Manchmal zeigt nur der zerknüllte Anzug neben dem Bett, dass ihr Mann überhaupt zu Hause war. Sie verkeilt sich immer heilloser im Versuch, alle Erwartungen zu erfüllen, ohne sich von ihren wachsenden Ängsten die Luft abdrehen zu lassen.
Was kann nicht alles passieren mit kleinen Kindern! Ist es nicht gefährlich, überhaupt aus dem Haus zu gehen, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünscht, als Anschluss zu finden? Im nahe gelegenen Park beobachtet Erika öfter eine andere Mutter. Sie wirkt so gelassen, so entspannt und irgendwie auch ungezähmt, ein wenig wild (wir befinden uns schließlich in der Geburtsstadt Rousseaus). Erika nennt sie Nell, heimlich, nur für sich.
Kyra Wilders Debütroman "Das brennende Haus" erzeugt eine irritierende Faszination. Im Original heißt er "Little Bandaged Days", was die Sache noch etwas genauer trifft, aber auf Deutsch keinen vielversprechenden Titel abgibt. Die in der Schweiz lebende Amerikanerin erzählt ihre Jederfrau-Geschichte mit minimalen Verrückungen zu verschiedenen Genres. Am Anfang denkt man: Ach ja, wieder ein Roman über das (unbestreitbar) schwierige Leben von Müttern. Ist das nicht ein bisschen glatt? Warum rutscht man ständig von der Oberfläche ab? Wo ist die Tiefe?

Familienhölle mit coolem Understatement

Dann aber begreift man, dass der merkwürdig distanzierte Ton der Ich-Erzählerin Teil der Versuchsanordnung ist. Er ist das prägende Stilmittel. Wie unter einem Glassturz können wir diese kleine Familien-Aufstellung mit panischer Mutter-Maus beobachten. Und natürlich kommt einem irgendwann "Die Glasglocke", der einzige Roman der Lyrikerin Sylvia Plath, in den Sinn: "Für den, der eingezwängt und wie ein totes Baby in der Glasglocke hockt, ist die Welt selbst der böse Traum."
Das oft mit Memoir-Elementen aufgeputschte Genre der Familienhöllenprosa mischt Wilders Debütroman mit coolem Understatement auf. Das Motto hat sie Shirley Jackson entlehnt, der hierzulande zu wenig bekannten Meisterin psychologisch heruntergedimmter Horror-Szenarien: "Es ist viel schwerer, ein Haus niederzubrennen, als man denkt." Neben Sylvia Plath und Emily Dickinson spuken Edgar Allan Poe und Samuel Beckett durch "Das brennende Haus". Nur auf den ersten Blick sieht es so aufgeräumt aus wie eine Schweizer Fußgängerzone.

Kyra Wilder: "Das brennende Haus"
Aus dem Englischen von Eva Kemper
S. Fischer, Frankfurt am Main 2020
254 Seiten, 22 Euro

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