Edoardo Albinati: "Die katholische Schule"

Die Brutalität der Jungmännerwelt

Von Maike Albath · 02.11.2018
Einen Romankoloss hat Edoardo Albinati mit "Die katholische Schule" geschrieben. Im Mittelpunkt steht ein furchtbares Verbrecher: Zwei Teenager werden entführt und gefoltert. Drumherum flicht der Autor ein schillerndes wie lesenswertes Italienporträt.
Was es wohl heißt, als Mann auf die Welt zu kommen? Keine leichte Aufgabe offenkundig, zumal wenn man im Italien der Siebzigerjahre heranwächst. Der römische Schriftsteller Edoardo Albinati stellt sich einer radikalen Selbstbefragung, bei der er alles in den Blick nimmt, was ihn als Heranwachsenden prägte: die Gepflogenheiten einer vielköpfigen bürgerlichen Familie und den Alltag in dem gediegenen Wohnviertel Quartiere Trieste, den verdrängten Faschismus der Großelterngeneration und den vermeintlichen Kommunismus der liberalen Mittelschicht, die Regeln der katholischen Erziehung, das unterdrückte Begehren, die fatale Wirkung des Männerbündischen, die neuen libertären Sitten und die kaum camouflierte Gewalt zwischen den Geschlechtern.

Verbrechen bildet dunklen Kern des Romans

Das Ergebnis ist ein faszinierender Roman-Koloss von knapp 1300 Seiten, schillerndes Italienporträt, Bildungsgeschichte, Gesellschaftsanalyse und Männlichkeits-Studie in einem. "Die katholische Schule" nennt Edoardo Albinati sein breit angelegtes Unterfangen und markiert bereits im Titel den Hauptschauplatz des Buches. Sein Ich-Erzähler, der neben dem Namen auch noch etliche andere Eigenschaften mit dem 1956 geborenen Verfasser teilt, besucht bis zur 12. Klasse die katholische Privatschule San Leone Magno, genannt SLM.
Ausgerechnet aus dieser Schule und ihrem Umfeld gehen die Täter des Verbrechens von Circeo hervor, bei dem 1975 eine Siebzehnjährige und eine Neunzehnjährige entführt, vergewaltigt und gefoltert wurden. Eines der beiden Opfer überlebt. Diese Gewalttat, nur wenige Seiten umfassend, bildet den dunklen Kern des Romans.

Abgründige Seite des Kleinbürgertums

Edoardo Albinati, Verfasser einer Reihe eindrucksvoller Bücher, Lehrer für Italienisch im Gefängnis von Rebibbia und einige Jahre in Afghanistan beim internationalen Flüchtlingswerk UNHCR tätig, kreist um die Widersprüche der späten Moderne. Dem archaischen Triebleben kommt man mit den pseudofortschrittlichen Erziehungsmethoden der Priester nicht bei. Der Autor kostet das Verbrechen weder voyeuristisch aus, noch inszeniert er es als erzählerischen Höhepunkt. Im Gegenteil, es wird zum sirrenden Oberton, zu etwas, das die gesamte Zeit vorhanden ist, aber womit man nicht fertig wird.
Die Gewalttat, von Albinati mit dem Kürzel VvC markiert, als sei es eine Formel, ist Ausdruck der abgründigen Seite des Kleinbürgertums. Weil 2005 einer der Täter eines weiteren Verbrechens überführt wurde, tauchten die Geschehnisse im Inneren des Ich-Erzählers wieder auf "wie eine Mumie in einem billigen Horrorfilm".

Reflexion über Möglichkeiten des Erzählens

Albinati mutet seinen Lesern einiges zu, was weniger an der Brutalität der Jungmännerwelt liegt als an der schieren Textmasse, die von soziologischen Betrachtungen bis zu Aphorismen und philosophischen Ausführungen alles umfasst. Der Roman changiert zwischen Psychogrammen, Essays, regelrechten Erzählungen und Gegenwartssplittern. Das sprachlich glänzend gestaltete und von Verena von Koskull ebenso glänzend übersetzte hybride Werk ist auch eine Reflexion über die Möglichkeiten des Erzählens an sich.

Edoardo Albinati: Die katholische Schule
Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull
Berlin Verlag, München 2018
1294 Seiten, 38 Euro

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