Edmund White: "Meine Leben"

Schmerzlich schöne Absurditäten

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Das Buchcover von Edmund Whites Memoiren "Meine Leben" zeigt den Autor in weißem Hemd mit Fliege, schwarzer Hose, Bauchbinde und Hosenträgern, wie er breitbeinig dasteht, die Hände in den Hosentaschen, mit herausforderndem Blick.
Freigeistig, selbstironisch und erfreulich undogmatisch schildert der amerikanische Schriftsteller Edmund White in seinen Memoiren zugleich die Emanzipationsbewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. © Deutschlandradio / Albino Verlag
Von Marko Martin · 13.07.2021
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Edmund White, Godfather der amerikanischen Gay-Literatur, hat seine Memoiren geschrieben. "Meine Leben" ist jedoch alles andere als gediegene autobiografische Prosa, sondern erzählt von einer Existenz jenseits aller Bigotterie.
Könnte Edmund Whites Buch "Meine Leben" nicht eher das Wort "Überleben" im Titel tragen? Immerhin hatte der 1940 in Cincinnati/Ohio geborene Romancier bereits 1989 das Testergebnis erhalten, HIV-positiv zu sein, was damals noch einer Art Todesurteil auf Raten gleichgekommen war.
Noch gab es weder einen "Pillen-Cocktail" noch Therapien, doch zählte White quasi dank einer Laune des Zufalls zu jenen weltweit raren Fällen, die trotz ihrer Infektion niemals Symptome entwickelten. Dafür jedoch hatte der heute in Manhattan lebende Autor bereits vor Jahren seinen verstorbenen Freunden den berührenden Roman "Abschiedssymphonie" gewidmet.

"Sex war leicht zu haben"

In eigener Sache allzu verschattet gestimmt zu sein ist dagegen wohl kaum der Stil dieses Schriftstellers, der weltweit längst als der Godfather der "Gay Literature" gilt. Und so ist "Meine Leben" nach einem durchaus ironischen Ordnungsprinzip aufgebaut. Den Eingangskapiteln "Meine Seelenklempner", "Mein Vater", "Meine Mutter" folgen Erinnerungstexte etwa über "Mein Europa" (White lebte insgesamt 16 Jahre in Paris), "Meine Blonden" oder "Mein Genet". Letzterem hatte er Anfang der neunziger Jahre eine umfangreiche Biografie gewidmet, die bis heute als Standardwerk der Jean-Genet-Forschung gilt.
Doch geht es hier nicht um Nabelschau auf dem Podest - und trotz zahlreicher erhellender Miniatur-Porträts etwa über Susan Sontag oder Michel Foucault auch nicht um Namedropping - sondern um das Nachzeichnen eines Wegs aus homophob-prüder Nachkriegs-Umwelt hinein in den Hedonismus von New York, wo vor dem Ausbruch von Aids eine Art erotisches Paradies bestanden haben musste. Oder doch nicht? "Sex war so leicht zu haben, dass er meist enttäuschend war. Die sofortige Befriedigung der Lust erzeugte einen Kurzschluss."

Vaters Strenge, Mutters Rohrschachtest

Auch das ein Plus dieses trotz seiner über fünfhundert Seiten eminent kurzweiligen Buchs: Der ebenso hochgebildete wie unprätentiöse, ja mutwillige White fällt sich immer wieder selbst ins Wort, um mögliche Klischees zu vermeiden, weiß dabei jedoch als literarischer Profi genau, dass die Zeiten André Gide'scher Selbstinspektion längst passé sind und die Leserschaft nicht allein Reflexionen erwartet.
Und wie lustvoll er erzählt, selbst von peinigender Erfahrung: Vom ultra-konventionellen Midwest-Vater, der seinerzeit bereits das Tragen einer Armbanduhr für verweichlichend hielt, oder von der psychologisierenden Mutter, die den Knaben mit acht Jahren einem Rohrschach-Test unterzog und ihm danach "schizophrene Tendenzen" bescheinigte. Währenddessen das älter werdende Früchtchen das vom Vater erhaltene Taschengeld dann dafür nutzte, um für zwanzig Dollar junge Provinzmänner in Karohemden und staubigen Stiefeln dafür zu bezahlen, nicht länger vor Greyhound-Busstationen herumzulungern, sondern mit ihm in eine Absteige zu gehen. "Ich war nicht hässlich, aber ich war minderjährig, und selbst für einen Teilzeithomosexuellen war das Leben in der Eisenhower-Ära nicht leicht."

Freier, frecher Ton

In New York findet der junge Edmund White dann endlich mit Charles Silverstein (nein, der Name ist keine Erfindung von Woody Allen oder Philip Roth) einen versierten "Seelenklempner", der ihm keine neuen Komplexe einredet, sondern die Welt weitet. "Charles und ich beendeten die Therapie, als ich den Auftrag bekam, das Buch 'Die Freuden der Schwulen' zu schreiben, mit - Achtung, Überraschung - Dr. Silverstein als Co-Autor."
Ansonsten scheint White von den Emanzipationsbewegungen jener Zeit profitiert zu haben, ohne dabei zum Aktivisten oder gar Ideologen geworden zu sein. Wahrscheinlich hätte er es auf diese Weise formuliert: Lieber 69 als '68. Gerade nämlich der freie, freche Ton, in dem diese unkonventionellen Memoiren geschrieben sind, könnte ein nützliches Antidot zum bigott-zänkischen Ton sein, der sich heutzutage in so manche "Identitäts"-Debatte" eingeschlichen hat.
Edmund White zu lesen bedeutet die schmerzlich-schönen Wunder und Absurditäten unserer irdischen Existenz neu zu entdecken - ganz gleich, ob nun "gay", "queer" oder "hetero". (Nicht zufällig nämlich trägt eines der berührendsten Kapitel dieses Buches den selbstironischen Titel "Meine Frauen".)

Edmund White: "Meine Leben"
Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae
Albino Verlag, Berlin 2021
528 Seiten, 28 Euro

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