Eckhart Nickel: "Hysteria"

Grüne Abgründe im Naturparadies

"Hysteria" von Eckhart Nickel
"Hysteria" spielt in einer Welt, in der die Menschen gezwungen sind, strikt nach den Naturgesetzen zu leben. © Piper Verlag/picture alliance/dpa/Foto: J. Pfeiffer
Von Michael Opitz · 09.01.2019
Die Himbeere ist ein Tick zu rot, das Grün zu grün. Autor Eckhart Nickel entwirft in „Hysteria“ das dystopische Porträt einer ökologisch optimierten Gesellschaft. Das vermeintliche Ökoparadies entpuppt sich als schöner Schein.
Es waren nicht nur die Himbeeren, mit denen etwas nicht stimmte. Wären es nur die so seltsam dunkel gefärbten Früchte gewesen, Bergheim, der Protagonist in Eckhart Nickels Debütroman "Hysteria", hätte nicht so besorgt sein müssen. Die eine Spur zu dunkelrot aussehenden Himbeeren erweist sich als das Horsd’œuvre zu einer Geschichte, in der Rinder, wenn sie sich an einer Stallwand das Fell an einem Nagel aufreiben, nicht bluten, sondern unter sich lösenden Hautfetzen gelangen Fleischbatzen zum Vorschein, die wie in Folie verpacktes Geflügelfleisch aussehen. Bergheims Irritation ist also berechtigt.

Der Mensch soll sich der Natur unterordnen

Der Roman des 1966 in Frankfurt am Main geborenen Autors spielt in einer Welt, in der die Menschen gezwungen sind, strikt nach den Naturgesetzen zu leben. Aber im Ökoparadies befinden sie sich dennoch nicht. Lernen müssen sie, spurlos zu leben, denn die Natur soll wieder in jenen Zustand zurückgeführt werden, die sie auszeichnete, bevor die Menschen in den Naturkreislauf eingegriffen haben. Schon längst gibt es keinen Alkohol mehr, auch Nikotin ist verboten und selbst Tee und Kaffee sind nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Lange genug hat der Mensch die Natur ausgebeutet, jetzt soll er sie respektieren, was heißt: Er soll sich ihr unterordnen.
Dieser Fanatismus macht ihn zwar überflüssig, aber dies scheint niemandem aufzufallen. Bevor er endgültig verschwindet, darf er sich kulinarischen Extravaganzen hingeben. Früchte in allen Variationen stehen hoch im Kurs, in Aromabars werden verheißungsvolle Cocktails angeboten. Der Himmel, so wird es in diesem dystopischen Zukunftsroman suggeriert, leuchtet zwar noch ganz selbstvergessen blau, und auch die sich darunter ausbreitenden Wiesen präsentieren sich unverschämt grün – Rousseau hätte an so viel unverwechselbarer Natur seine wahre Freude gehabt –, wären da nicht die bedenklich dunkelrot gefärbten Himbeeren gewesen.

Allerbeste literarische Feinkost

Eckhart Nickel entwirft in seinem Roman eine schwer zu durchschauende Realität, denn die grünen Abgründe werden perfekt hinter einer makellosen Fassade versteckt. Auffällig sind in diesem Ökofundamentalismus nur minimale, kaum auffällige Veränderungen: Die Himbeeren sind eine Spur zu dunkel, das Grüne ist eine Idee zu grün. Nickel gelingt es, mit seiner Geschichte die Sinne seiner Leser zu schärfen. Was er auftischt, ist allerbeste literarische Feinkost – ein kulinarischer Pop-Roman. Man könnte auch von "Beluga-Literatur" sprechen. Jeder Satz in "Hysteria" ist edel gearbeitet. Das klingt verführerisch, nur sollte man bei allem Wohlgeschmack nicht vergessen, dass es dieser Autor versteht, selbst den letzten Bissen auf einem Silbertablett zu servieren. Die Naturfokussierung ist in Nickels Roman nur noch schöner Schein – es gibt sie schon lange nicht mehr.
Wir könnten uns damit trösten, dass – wenn überhaupt – in weiter Ferne liegt, was der Autor da episch "angerichtet" hat. Anlass zur Hysterie bestünde insofern nicht. Die Contenance verlieren auch Nickels Figuren nie: Alles verläuft in wohlgeordneten Bahnen und keiner empört sich. Man ist so sehr mit kulinarischem Schnickschnack beschäftigt, so fixiert auf bizarre Fruchtsäfte und exotisch klingende Gerichte, dass außer Bergheim niemand der morbide Charme auffällt, der sich wie Schimmel über diese vermeintliche Ökogesellschaft gelegt hat. In weiter Ferne liegt eben nicht, worüber Nickel in diesem unbedingt lesenswerten Buch nachdenkt.

Eckhart Nickel: "Hysteria"
Piper Verlag, München 2018
240 Seiten, 22 Euro

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