Eberhard Rathgeb: „Die Entdeckung des Selbst"

Der Kampf gegen die Herdenmenschelei

06:23 Minuten
Cover des Buchs "Die Entdeckung des Selbst" von Eberhard Rathgeb.
© Penguin Random House

Eberhard Rathgeb

Die Entdeckung des Selbst. Wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard die Philosophie revolutioniertenKarl Blessing Verlag, München 2022

320 Seiten

22,00 Euro

Von Pascal Fischer · 12.05.2022
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Gegengift in einer Zeit der Gruppenidentitäten: Eberhard Rathgeb hat ein Buch über Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche verfasst. Die Denker kultivierten gegen jede äußere Zumutung ein Selbst, das radikal anders war als alles, was ihre Zeit kannte.
In einer Zeit, in der Gruppenidentitäten hoch im Kurs stehen, erinnert der Journalist und Schriftsteller Eberhard Rathgeb an drei philosophische Solitäre, die zeigen, wie man sein Selbst erkennt und kultiviert: Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche.
Alle drei entdeckten ihr Selbst biographisch, indem sie vorgezeichnete Lebenswege ablehnten: Schopenhauer verweigerte sich dem Kaufmannsleben, Kierkegaard verzichtete auf eine Laufbahn als Pfarrer und Nietzsche stieg aus einer Professorenkarriere aus, die ihn krankmachte.

Gegen die Zumutungen der Zeit

Auch theoretisch wandten sie sich gegen die Zumutungen der Zeit. Schopenhauer forderte bald: „Werde, wer Du bist!“ Es gelte, den eigenen Wesenskern gegen alle äußeren Widerstände zur Geltung zu bringen.
Für Kierkegaard bestand das wahre Christentum nicht im Mittrotten in der Amtskirche, sondern in der ständigen Reflexion des eigenen Glaubens. Und Nietzsche zertrümmerte wie kein anderer Traditionen und kündete vom Übermenschen, der sich fernab jeder christlichen Leibverachtung selbst spürte und erfand. Gerade Nietzsche führte vor, wie eine fast künstlerische Selbst-Inszenierung aussieht.
Diese drei wollten die Welt nicht ändern, sondern sich von ihr abwenden. Sie waren dezidiert antimodern. In der allgemeinen, aufklärerischen Vernunft war das fühlende, individuelle Selbst fast verlorengegangen; die drei Philosophen machten das eigene Erleben zum Ausgangspunkt ihrer Theorien. Fußnote am Rande: Allen dreien fiel eine schriftstellerische Selbsterfindung insofern leicht, als dass sie nicht arbeiten mussten.

Empowerment durch Einsamkeit

Ein wenig schwächelt Rathgebs Abhandlung beim Bezug zur Gegenwart: Eine explizite Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Theorien leistet er nicht. Eher möchte er daran erinnern, wie existenziell tief der Mensch vom Individuum anstatt von der Gruppe her gedacht werden kann. Empowerment kann demnach auch in der Einsamkeit keimen.
Was im Buch leider fast unter den Tisch fällt, ist die Gespaltenheit des Ichs, die in einigen Nietzsche-Passagen anklingt – dabei ließe sich gerade diese der Identitätspolitik entgegensetzen, welche dazu neigt, das Individuum auf ein eindeutiges Sein festzulegen.
Der Einzelne soll seinen Geist nicht nach Art der allgemeinen Vernunft schulen, sondern individuell nach seiner Bestimmung, seinen Leidenschaften, dem eigenen Sinn fragen. Damit weisen die drei Philosophen voraus in die Psychologie des 20. Jahrhunderts.

Das Buch krankt an Vagheit

Aber eine Persönlichkeits- oder Entwicklungspsychologie konnten und wollten sie nicht entwerfen. Insofern kann Rathgeb nur vage beantworten, wie man sein Selbst konkret findet, schafft oder überwindet. An dieser Vagheit krankt das Buch, es entscheidet sich nicht zwischen Dreifach-Biographie, Philosophie-Geschichte und praktischer Handreichung.
Um zu verstehen, wogegen sich die drei Denker behaupteten, hätte eine intensivere Auseinandersetzung mit entgegengesetzten Theorien etwa von Marx, Saint-Simon oder Fourier viel besser geholfen als die Auslegung von zeitgenössischen Gemälden, die Rathgeb stellenweise einstreut. Bei einem aber hat der Autor sicher recht: Man sollte das Selbstgefühl ernstnehmen. Sonst flackert es mahnend am Lebensende auf – und dann ist es zu spät.
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