Drohendes Unheil

Von Jochen Stöckmann |
Die anonymen Verfasser des Aufrufs "Der kommende Aufstand" sehen die Welt des globalisierten Kapitalismus in einem unentrinnbaren Verhängnis. Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet: Die Gegenwart ist ausweglos und die Gesellschaft am Ende.
"Ein Gespenst geht um in Europa!" Marx und Engels stellten diese je nach Standpunkt düster bis verheißungsvoll klingende Prophezeiung an den Beginn ihres "Kommunistischen Manifest" - um anschließend nüchtern die sozialen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft zu sezieren.

Die anonymen Verfasser des Aufrufs "Der kommende Aufstand" beginnen mit dem Satz: "Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos." Auf diese illusionslose Feststellung folgen fast 100 Seiten kunterbunt ausgemaltes Menetekel. Zwischen Supermarktkassen und Plasmabildschirmen tummeln sich da in den Metropolen "als misslungene Modepuppen verkleidete Fußgänger", seelenlose Zombies.

In einer Melange aus theoretischen Versatzstücken und apokalyptisch angehauchter Protestlyrik gerät die Welt des globalisierten Kapitalismus zum unentrinnbaren Verhängnis: Der Schulunterricht hat die Menschen der eigenen Sprache beraubt, die Pornographie der Körperlichkeit, die Freunde haben sie durch den Zwang zur Lohnarbeit verloren. So suggerieren die Revolutionäre in spe den Popanz eines allmächtigen "Systems" - dem sie nicht mit scharfem Besteck, sondern mit schiefen Metaphern zu Leibe rücken. Mal mokieren sie sich über die Gesellschaft als "vages Konglomerat von Milieus, Institutionen und individuellen Blasen", dann üben sie sich im Sturmlauf gegen ein "Kraftwerk, das seine Turbinentätigkeit aus einem gigantischen Tränenstau zieht, der immer kurz davor ist, sich zu ergießen."

Politische Köpfe werden derart blumige Kaffeesatzleserei kaum ernst nehmen. Und seinen Niederschlag findet das französische Aufstands-Manifest denn auch in den Feuilletons. Einige Rezensenten sind schlicht begeistert, andere räsonieren über geistige Ahnherrn oder Hintermänner, verorten sie mit Carl Schmitt und Ernst Jünger auf der Rechten, als Abklatsch von Michel Foucaults "Bio-Politik" auf der Linken. Und übersehen dabei, dass sich das jugendbewegte Pamphlet einer unheilvollen Fusion von Gefühlsduselei mit menschenverachtenden Bürgerkriegsphantasien verdankt. Mit der tumben Entschlossenheit des sogenannten Tatmenschen wird einerseits "Wut" als Grundlage politischen Handelns propagiert, andererseits gilt jede schweigende Mehrheit - so wörtlich - als "unendlich viel erwachsener als all die Hampelmänner, die sich zanken, um sie zu regieren".

Aber auch Interessenverbände oder Organisationen jedweder politischer Couleur, sogar intellektuelle Milieus sind dem "kommenden Aufstand" hinderlich, werden als "gewerkschaftliche oder pazifistische Polizei" abgetan. Zu Vorbildern des "Widerstands" avancieren dagegen Kleinkriminelle, Gangster und vor allem die jugendlichen Brandstifter der Banlieues. Doch auch ohne Molotow-Cocktail kann eigentlich jeder mitmachen: "Die Straßen quellen über vor Unhöflichkeiten" konstatiert das anonyme Autorenkollektiv - und diese Wutausbrüche werden, so die Prognose, "zusammenströmen zu einer diffusen, wirksamen Guerilla."

Die harmlosen "Unhöflichkeiten" heißen im französischen Original "incivilités" - und verweisen auf das antizivilisatorische Ressentiment, die Kriegserklärung gegen die Stadt, am Ende auch gegen die klassische Polis durch eine im Verborgenen agierende Gruppierung, die zur Gründung von Landkommunen als "elementarer Einheit der Partisanenwirklichkeit" aufruft. Diese Kampfgruppen, pseudophilosophisch verbrämt als "Versammlung der Präsenzen", sollen aktiv werden, sobald Katastrophen oder Kriege, Stromausfälle oder Terroranschläge die gesellschaftliche Ordnung durcheinander gebracht haben. Ein Erfolgsrezept, erprobt von den Muslimbruderschaften, worauf die Aufstandsstrategen ausdrücklich hinweisen: "Heute sind die islamistischen Parteien niemals so stark wie da, wo sie fähig waren, die Schwäche des Staates klug zu ersetzen."
Fragt sich nur, was uns, was der Gesellschaft nach dem Ende des Staates blüht.

Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand
Aus dem Französischen von Elmar Schmeda
Nautilus Verlag, Hamburg 2010
Buchcover: "Der kommende Aufstand" von Unsichtbares Komitee
Buchcover: "Der kommende Aufstand" von Unsichtbares Komitee© Nautilus Verlag