"Dritte Welt Amerika"

Von Jan Tussing · 20.06.2011
Amerikas Sonnenstaat ist pleite. Investitionen in die öffentliche Bildung, Infrastruktur und Gesundheit werden aufgeschoben, die Immobilienkrise hat zu neuen Geisterstädten geführt. Immer mehr Familien besonders aus der Mittelklasse werden obdachlos.
Mit der Bank Countrywide Financial konnten Menschen ihren Traum vom Eigenheim verwirklichen. Bis 2008 vergab die damals größte Hypothekenbank der USA Kredite an jeden, der sie wollte.

Das Geld wurde den Kaliforniern förmlich nachgeschmissen. An Familien mit wachsenden Schulden, an junge Paare ohne Eigenkapital, einem Unternehmer, dessen Einkommen nur schwierig zu erfassen war. Wer bei anderen Banken abgelehnt wurde, Countrywide hat jedem einen Kredit gegeben.

2007 hat sich auch Kelly entschieden, eine Wohnung zu kaufen. Die junge Amerikanerin zahlte für ihre Einzimmerwohnung rund 1100 Dollar - und ihre Freunde sagten, du bist verrückt, dafür kannst du auch einen Kredit für einen Wohnungskauf bekommen. Also ging sie zur Bank und bekam einen Kredit.

Kelly bekam sogar zwei Kredite, und die ersten zwei Jahre zahlte sie nur an den Zinsen dafür ab. Dann kam die Wirtschaftskrise und die Immobilienblase platzte. Kelly ging zur Bank, um umzuschulden, aber die sagte ihr, sie müsse beweisen, dass sie in Not steckt. Die Amerikanerin erledigte den Papierkram und stellte am Ende fest: Sie schuldet der Bank mehr, als die Wohnung wert ist.

"Ich hoffe, es passiert ein Wunder, ansonsten muss ich die Wohnung unter Preis verkaufen. Ich werde den Kreditgeber anrufen müssen, dann kommt vielleicht ein Käufer, der 190.000 Dollar bietet. Und das ist sehr, sehr viel weniger als ich damals für diese Wohnung bezahlt habe. Ich habe über 300.000 bezahlt. Ich mache einen großen Verlust und meine Kreditwürdigkeit ist danach im Keller."

Bis heute hat sich die Lage für viele Kalifornier noch verschärft. Countrywide Financial ist eine der 200 Banken, die in den USA Pleite gegangen ist. Und Kelly ist eine der 120.000 Familien, die jeden Monat Bankrott anmelden. Der Abstieg von Kelly ist symptomatisch, symptomatisch für den Überlebenskampf der kalifornischen Mittelschicht. Die Jobs liegen in Kalifornien nicht mehr auf der Straße. Die Straßen im Golden State sind stattdessen gepflastert mit Obdachlosen – und Jobsuchenden.

Im Renaissance Hotel am Flughafen von Los Angeles findet eine Jobbörse statt. Unzählige Männer und Frauen stehen hier in einem sterilen Konferenzraum und schauen unsicher, vorsichtig und schüchtern auf die Stände der Unternehmen, die an der Wand aufgebaut sind. Stefanie hält ihren Lebenslauf noch in der rechten Hand:

"Früher war es einfach so, dass man irgendwo hinging, ein Formular ausfüllte und einen Job bekam. Heute geht alles nur noch mit dem Computer, und wenn du nicht die richtigen Schlüsselworte in deinem Lebenslauf benutzt, dann rufen sie dich noch nicht mal zurück."

Die 52-jährige Afroamerikanerin schickte jeden Tag fünf Bewerbungen per E-mail heraus. Aber die Antworten sind durchgehend negativ: nicht qualifiziert genug. Das frustriert Stefanie, denn sie ist vierfache Mutter. Und sie gehört selbst zur Generation der Babyboomer. Das sind die geburtenstarken Jahrgänge bis 1962. Gerade von ihnen sind viele arbeitslos zur Zeit:

"Ich bete viel. Meine Mutter versteht das alles nicht mehr. Sie war 43 Jahre lang Krankenschwester. In meinem Lebenslauf stehen fünf verschiedene Stationen in zehn Jahren. Sehr frustrierend. Und in meinem vorherigen Job hatte ich ein sechsstelliges Gehalt. Mir ist egal, wie viel ich jetzt verdiene, ich gebe mich auch mit der Hälfte zufrieden, aber weil das in meinem Lebenslauf steht, bekomme ich keinen Fuß in die Tür."

In Kalifornien herrscht Krise auf dem Arbeitsmarkt. Betroffen sind vor allem die Studienabgänger und die Babyboomer. Für Buchautor Jim Bacon sind sie eine tickende Zeitbombe. Sie stellen nämlich ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung, und sprengen die Sozialkassen der Bundesstaaten. "Boomergeddon" nennt Bacon das in Anspielung auf Armageddon - das Ende der Welt.

Robert schied im April 2009 aus der US-Armee aus und ist seit dieser Zeit arbeitslos. Der Amerikaner steht gepflegt in grauem Anzug mit Krawatte und Aktenkoffer im Raum, so als ob er sofort mit der Arbeit beginnen wollte. Der 50-jährige ist bereit, jeden Job anzunehmen:

"Im ersten Jahr war ich noch etwas selektiv. Aber jetzt dauert es schon so lange, und ich bin bereit, jeden Job abzunehmen."

Robert gehört nicht nur zur Babyboomer-Generation, sondern er ist auch noch Veteran. Er hat damit ganz schlechte Karten:

"Auch wenn du es mir nicht glaubst, aber ich wohne in einem Obdachlosenheim. Eine Notunterkunft. Da stehe ich nun, über 20 Jahre bei der Armee und bin obdachlos. Aber weil ich Kriegsveteran bin, bezahlen sie mir die Notunterkunft. Ich kriege Zimmer und Verpflegung, dafür muss ich mich um Arbeit kümmern. Und auf Jobbörsen gehen."

Die Uhr tickt für Kriegsveteranen wie Robert. In der Suppenküche der St. Anthony Stiftung sitzen viele, weil sie hier eine warme Mahlzeit umsonst bekommen, sagt Sozialarbeiter Shaun Osburn. Mit dem Speisesaal von St. Anthony beginnt typischerweise der Zugang zu den Sozialleistungen von St. Anthony.

Es ist Mittag hier im Tenderloin-Viertel von San Francisco. In der Suppenküche der Franziskanerstiftung werden jeden Tag 2700 Mahlzeiten an Obdachlose ausgegeben. Gerade herrscht hier Hochbetrieb.

Shaun: "Wir decken das ganze Spektrum ab. Das Tenderloin-Viertel spiegelt die heutige Zeit wider. Wir sehen Leute, die gerade ihren Job verloren haben, oder frisch eingewanderte Immigranten. Und seit kurzem sehen wir auch einen Anstieg an geburtenstarken Jahrgängen. Die haben vielleicht nicht so gut für ihr Alter vorgesorgt, wie sie gehofft haben. Und mit uns kommen sie besser über die Runden."

St. Anthony liegt im Tenderloin Viertel, einen Steinwurf vom Rathaus in San Francisco entfernt. Das Viertel ist über die Jahre zu einem grauen tristen Slum mutiert. Ungepflegte Menschen in schmutziger Kleidung schieben ihr Hab und Gut mit einem Einkaufswagen über den Bürgersteig.

Shaun: "Offiziell ist die Rezession im Juni 2010 zu Ende gegangen, und für viele hat sich das Blatt gewandelt, aber viele sind im zweiten Jahr arbeitslos. Sie haben ihre Reserven und Ersparnisse aufgebraucht, und wir sehen jetzt die ersten Opfer der Krise, die am Ende sind."

Aus der Wirtschaftskrise wuchs eine Jobkrise. Es folgte eine Immobilienkrise, denn das Geld für die Hypothek fehlte. Viele Menschen leben nun vom Dispo ihrer Kreditkarten. Eine tickende Zeitbombe. Auch für viele Familien. Allein die Zahl der obdachlosen Kinder hat sich im vergangenen Jahr in San Francisco verdreifacht, sagt Shaun:

"Bestes Beispiel ist der Mann, der früher im Silicon Valley arbeitete, bevor er seinen Job verlor. Nach zwei Jahren hatte er seine Ersparnisse aufgebraucht und landete auf der Straße. Er schlief auf dem Sofa seiner Freunde und kam zu einer Notunterkunft. Ab wann ist man obdachlos?"

Das Gesicht der Obdachlosen wandelt sich. Während früher vor allem psychisch Kranke, Alkoholiker und Drogenabhängige obdachlos wurden, ist es heute der Mittelstand. Und wir haben noch nicht das Ausmaß dessen erfasst, was uns bevorsteht, sagt Shaun. Wer hätte gedacht, dass die Krise so lange dauert und alle Ersparnisse der Betroffenen aufbrauchen würde?

Die Krise hat den amerikanischen Mittelstand voll im Griff. Nach einer Studie der Hilfsorganisation "Feeding Amerika" aus dem Jahre 2010 gehen rund 40 Millionen Amerikaner täglich hungrig ins Bett, darunter fast 10 Millionen Kinder. Ein Zuwachs von 25 Prozent gegenüber 2006, also dem Jahr, bevor die Wirtschaftskrise begann.

"Die Möglichkeit aufzusteigen hat sich ins Gegenteil verkehrt und nun sind viele von der Abwärtsspirale betroffen. Erfolg zu haben oder einfach als Mittelklassefamilie zu überleben, ist zu einem Glücksspiel geworden."

Das ist Ariana Huffington. Die renommierte Buchautorin ist Gründerin der liberalen Internetzeitung Huffington Post und sie warnt vor dem Abstieg Amerikas:

"So viele Menschen, mit denen ich sprach, aus der Mittelklasse, Leute mit Universitätsabschluss, die stabile Jobs hatten, erzählen mir, dass der amerikanische Traum vorbei ist. Früher galt: Hart arbeiten und fair spielen, dann steigst du auf. Das gibt es nicht mehr. Es besteht kein Zweifel, die Regierung Obamas hat die Wirtschaftskrise unterschätzt. Wir haben immer gesagt, nach dem Ankurbelungspaket würde die Arbeitslosigkeit auf 8 Prozent sinken. Und nicht nur das ist nicht eingetroffen, sondern die Möglichkeit, Arbeitslosigkeit im zweistelligen Bereich zu sehen, ist gestiegen. Und die wahre Arbeitslosigkeit ist viel höher. Wir haben 26 Millionen Leute die un,- oder unterbeschäftigt sind oder die sich nicht um einen Job bewerben. Jeder kennt jemanden, der davon betroffen ist."

Huffington hat ein Buch geschrieben mit dem provokativen Titel "Dritte Welt Amerika". Die Mittelklasse, wie wir sie kennen, ist dabei zu verschwinden. Jeden Monat melden 150.000 Haushalte den Bankrott an, so die Autorin:

"Jede 30 Sekunden geht jemand Pleite, und das steht in direktem Zusammenhang mit den Krankheitskosten. Und der Tatsache, dass viele ihr Haus verloren haben, ungefähr drei Millionen Häuser sind im Jahr 2009 verloren gegangen, weil die Besitzer enteignet wurden. 2010 waren es noch einmal drei Millionen."

Sieht so das Ende einer Weltmacht aus? Wer dagegen in den USA Fernsehen schaut, der spürt von Krise nicht sehr viel. Denn Hollywood lenkt gekonnt von der drohenden Katastrophe ab. Zum Beispiel mit den reichen Hausfrauen in Beverly Hills.

Die Stimmung im Land ist auch über ein Jahr nach dem Ende der Krise nicht besser geworden. Kelly hat inzwischen wieder einen Job gefunden, aber Vertrauen in die Zukunft hat sie deshalb noch lange nicht:

"2009 war ich so optimistisch, als Herr Obama sagte, er würde das Pendel in die andere Richtung schwingen. Aber ich sehe das nicht. Der Fortschritt ist minimal und zum Glück geht es meiner Firma gut. Aber hier sind alle Leute desillusioniert. Jeder zuckt nur mit den Schultern. Und viele Leute suchen noch nach Arbeit. Viele Arbeitgeber verlangen nach deiner Kreditwürdigkeit und deiner Bankhistorie, wenn du dich um einen Job bewirbst. Das sagt ihnen etwas darüber, ob du mit Geld vernünftig umgehen kannst. Und ob du Schulden hast. Ich weiß nicht, warum die das brauchen, aber wenn du dein Eigenheim verlierst und dann noch einen Job suchst, stellt dich keiner an, und wenn du dann noch eine Mietwohnung suchst, hast du keinen Erfolg, und wirst abgelehnt, weil der Vermieter glaubt, du bleibst ihm die Miete schuldig. Du bist völlig in der Falle, der amerikanische Traum ist vorbei, jetzt ist es der amerikanische Alptraum."

Die Amerikaner stehen vor tiefgreifenden Veränderungen und gehen stürmischen Zeiten entgegen, denn obwohl die Wirtschaftskrise offiziell beendet ist, und viele Banken wieder zweistellige Milliardengewinne erwirtschaften - die Zahl der Arbeitslosen nimmt nicht ab. Amerika steht vor großen Herausforderungen.
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