Douglas Stuart: "Shuggie Bain"

Aufwachsen im schottischen Arbeiterviertel

06:14 Minuten
Cover des Romans "Shuggie Bain" von Douglas Stuart: Das Cover zeigt ein Schwarz-weiß-Foto von einer Frau und einem kleinen Jungen, die in einem Bett liegen, einander zugewandt, die Gesichter direkt aneinander. Sie wirken vertraut, wie Mutter und Sohn. Sie schauen sich in die Augen und der Junge hält den Kopf der Frau in seinem Arm.
© Hanser Berlin

Douglas Stuart

Sophie Zeitz

Shuggie BainHanser Berlin, Berlin 2021

496 Seiten

26,00 Euro

Von Gerrit Bartels · 29.12.2021
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Arbeitslosigkeit und Alkoholismus prägen das Leben der Bains: Die schottische Familie wird vom Strukturwandel Anfang der 80er-Jahre hart getroffen. Douglas Stuart erzählt in seinem Roman "Shuggie Bain" mit unvermutetem Glamour von der Tristesse.
Man muss im Fall von Douglas Stuarts 2020 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „Shuggie Bain“ von einem Paradox sprechen. Die Tristesse, die hier vorherrscht, die alltäglichen Gewalttätigkeiten, sie können schlimmer kaum sein. Trotzdem ist dieser Roman ganz großartig, sprachlich und von seinem Stoff her. Ein unvermuteter Glamour schimmert darin, eine Schönheit, die zwischen all der Kaputtheit aufblitzt.

 Autobiografisch inspirierter Roman

Stuart beginnt seinen autobiografisch inspirierten Roman mit einem kurzen Intro, das darauf verweist, was aus seiner titelgebenden Hauptfigur geworden ist. Es ist das Jahr 1992, und der 16-jährige Shuggie Bain arbeitet in einem Supermarkt auf der South Side von Glasgow. Er wohnt in einem möblierten Zimmer in einer ziemlichen Absteige mit lauter hoffnungslosen Säufern. Er weiß um seine Homosexualität, dass er anders als die anderen Jungen seiner Umgebung ist – und öffnet für einen der Säufer auch schon mal den Bademantel, damit dieser einen Blick werfen kann. Vielleicht lässt sich so, überlegt Shuggie, zusätzliches Geld verdienen.
Die Gegenwart ist also nicht besonders rosig. Doch dürfte sie bei weitem besser sein als alles, was hinter Shuggie Bain liegt. Das erzählt der 1976 in Glasgow geborene und aufgewachsene Douglas Stuart, indem er ein ganzes Jahrzehnt zurückblendet, ins Jahr 1981. Mit der britischen Kohle- und Stahlindustrie geht es bergab, die Zechen schließen reihenweise, Arbeitslosenzahlen steigen. Maggie Thatcher führt ihr unbarmherziges neoliberales Regiment und die Menschen schlagen sich mit Depressionen und Alkoholismus herum.
In diesem Umfeld wächst Hugh auf, wie Shuggie eigentlich mit Vornamen heißt. Mit zwei älteren Stiefgeschwistern und einer Mutter, die von ihrem zweiten Mann eines Tages mitsamt Kindern verlassen und verfrachtet wird in ein Häuschen in Pithead, einer trostlosen Arbeitersiedlung am Rande Glasgows.

Im Hort aller Ausgestoßenen

Nun meint man dieses Milieu gut zu kennen aus Romanen anderer schottischer Autoren wie John Burnside („Die Spur des Teufels“), Irvine Welsh („Trainspotting“, „Klebstoff“) oder David Keanan („Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“).
Doch Stuart dreht die Tristesse-Schraube noch ein paar Winden weiter: Pithead wirkt wie das Ende der Welt, als Hort aller Ausgestoßenen. Diese Szenerie ist eine grauschimmernde Klasse für sich und „Shuggie Bain“  nicht nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch ein Roman über Shuggies Mutter Agnes, kurzum: ein Alkoholikerinnenporträt.

 Präzision, besonders für Mode

Stuart wechselt die Perspektiven in seinem Roman häufig, von Mutter Agnes Bain geht es zu ihrem Mann Big Shug, dem Taxifahrer, von Shuggie zu seinem Bruder Leek, der mit seinen Zeichnungen in einer ganz eigenen Welt lebt und sich gut abzuschotten weiß.
Der Blick für Details, Stuarts Präzision sind beeindruckend, irritieren bisweilen aber etwas. Zum Beispiel wenn er Agnes Bain zu einer besonderen Figur macht, zu einer Frau, die allein ihres Outfits wegen aus dem Düstergrau von Pithead heraussticht, und wenn sie noch so betrunken ist. Hier besondere Schuhe, dort ein eleganter Mantel, hier eine Applikation, dort ein Haus voller Farben und Blumen - was vielleicht daran liegt, dass der inzwischen in New York lebende Autor im Erstberuf Modedesigner ist.

Übersetzung in eigene Kunstsprache

Man begibt sich letztendlich immer lieber und begeisterter in den schnell fließenden Erzählstrom dieses Romans, ist immer sehr nah dran, vor allem an Shuggie und seiner Mutter.
In der Übersetzung gewinnt „Shuggie Bain“ im Übrigen zusätzlich. Denn Sophie Zeitz ist es gelungen, die viele, von Dialekt und Straßenslang dominierte wörtliche Rede zu einer eigenen Kunstsprache zu machen, die gleichfalls schöner ist als das, was sie ausdrückt.

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