Streetworker trotz Sucht

Ein Leben mit und gegen Drogen

54:22 Minuten
Illustration zu Drogen: Ein Mann kehrt Kokain mit einem Besen zusammen.
Koks und Heroin gehörten zu seinem Leben. Komplett verteufeln möchte Björn sie aber nicht, obwohl sie ihn in einen Abgrund führten. © Imago / fStop Images / Malte Müller
10.03.2023
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Er wuchs im Elternhaus mit harten Drogen auf, nahm als Teenager Kokain und Heroin. Abhängigkeit, Kriminalität und Gewalt prägten sein Leben. Heute hilft Björn anderen Süchtigen. Verteufeln möchte er Drogen trotzdem nicht. Ein Porträt.
„Ich war ganz lange Zeit ein Grenzläufer – und wer weiß, ob ich es nicht irgendwann wieder bin“, sagt Björn. „Ich kann ja nur von heute sprechen: Dass ich mich stabil genug dafür fühle.“ Dafür – das sind Kokain und Heroin. Mit elf Jahren nimmt Björn ds erste Mal Koks, mit 13 Jahren Heroin. Es folgt ein Leben in Abhängigkeit, als Dealer, im Knast.

Die Sucht & Drogen Hotline ist unter der Telefonnummer 01806 313031 zu erreichen. Sie bietet telefonische Beratung, Hilfe und Informationen durch erfahrene Fachleute aus der Drogen- und Suchthilfe. 

Die Einrichtungsdatenbank der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) enthält alle wichtigen Informationen zu den bundesweit über 1.400 ambulanten Suchtberatungsstellen.

Heute arbeitet Björn unter anderem als Streetworker in Dortmund. Er hat sein Leben im Griff, zurzeit jedenfalls. Denn ganz auf illegale Drogen verzichtet er nicht. Geht das?
„Es ist schon auch ein Spiel mit dem Feuer, einen Lauf an der Grenze“, sagt er. Kokain – „das ist ein kleiner Teufel“, Heroin – „wie so eine gelegentliche Affäre“. So beschreibt er die beiden Substanzen, die lange sein Leben bestimmt haben und ihn auch noch heute begleiten. Das letzte Mal konsumiert habe er vor zwei Wochen, drei Wochen, sagt er freimütig. Er scheint nichts zu verschweigen.

Mit Betroffenen ins Gespräch kommen

Im nicht gerade pittoresken Norden der Dortmunder Innenstadt ist Björn mit einem Kollegen unterwegs, als Streetworker auf der Suche nach der Szene, Menschen, die harte Drogen konsumieren: Heroin, Crack, Crystal Meth, Kokain, was auch immer.
Fußgänger laufen unter einer mit Graffiti besprühten Brücke in der Dortmunder Nordstadt, 17. August 2022.
Die Dortmunder Nordstadt ist nach Angaben der Stadt trotz vieler Bemühungen noch immer von hoher Arbeitslosigkeit, einem hohen Armuts- und niedrigen Bildungsniveau und einem schlechten Image geprägt © IMAGO / Funke Foto Services / Ralf Rottmann
„Wenn die einen nicht kennen, ist es ja klar, dass die einen erst einmal abchecken. Das habe ich ja genauso gemacht, als Dealer“, sagt Björn – knapp zwei Meter groß, schlank, kurzer Uppercut, akkurater Scheitel. Mittlerweile würden die Streetworker aber mit offenen Armen empfangen. „Wir haben uns vorgestellt, und so kommt man dann ins Gespräch: Wer seid ihr, was macht ihr?“

Kindheit mit harten Drogen

„Ich bin in einem Haushalt groß geworden, wo Suchtmittel immer eine Rolle gespielt haben“, erzählt er von seiner Kindheit mit zwei jüngeren Geschwistern und einem Vater, von dem er viel später erfahren wird, dass er nicht sein leiblicher ist. „Meine Mutter hat angeschafft, von zu Hause aus. Wenn abends die Bekannten gekommen sind, stand schon mal eine Glasscheibe mit fertig gekochtem Kokain oder auch ein Döschen mit Heroin auf dem Tisch.“
Mit elf habe er das auf dem Boden gefallene Koks probiert, aus Neugier. „Es hat sich angefühlt wie so eine Rüstung, die ich angelegt habe. Man muss wissen: Bei uns im Elternhaus waren ja nicht nur Suchtmittel ein Problem, sondern auch Gewalt.“ Die Droge legte sich „wie ein Panzer“ um ihn.

Kriminalität und Gewalt

Auf der rechten Hand hat Björn einen Totenkopf mit Krone tätowiert, über seinen Schlüsselbeinen die Blätter eines Lorbeerkranzes, mittendrin vier Buchstaben: Coma – Criminal One Man Army. Eine Anspielung auf seine Vorstrafen. „Vergangenheit“, sagt er. Eigentlich würde er gerne soziale Arbeit studieren. Doch aufgrund von „gewisser Vorstrafen“, die nicht aus dem Führungszeugnis gelöscht werden, dürfe er nicht mit Schutzbefohlenen arbeiten.
Welche Vorstrafen? „Der versuchte Mord, den ich in 2004 begangen habe“, sagt er. Der damals 20-Jährige finanzierte seinen Lebensunterhalt und den eigenen Konsum mit dem Handel von Drogen. „Es war ein Konflikt mit jemandem, der auch bei mir regelmäßig gekauft hat, um das dann in der Innenstadt weiter zu verkaufen. Der wurde zunehmend paranoid, fing an, meine Schwester zu bedrohen. Da ich aber damals eine ziemlich kurze Zündschnur hatte, ging das halt nach hinten los.“
Es ist einer der wenigen Momente, in denen er zu überlegen scheint, ob er wirklich erzählen will, was er jetzt erzählt. „Da bin ich mit dem Fahrrad hingefahren, mit der Waffe, habe geklingelt, geschossen. Er ist dann schon mit Schmerzen zusammengebrochen. Und im Endeffekt war es so, dass ich Ladehemmung hatte und dann noch Benzin genommen habe und ihn damit übergossen und angezündet. Jetzt war natürlich schon relativ viel Zeit vergangen. Ich habe mich ja dann auch sofort vom Acker gemacht. Das heißt, er konnte relativ schnell abgelöscht werden, sodass da gar nicht so viel passieren konnte, Gott sei Dank.“ Zu Hause habe er einen „absoluten Filmriss“ gehabt und nicht mehr an diese Situation gedacht, bis die Tür aufflog und das SEK reinkam, um ihn zu verhaften.
Heute sei die kurze Zündschnur Vergangenheit, sagt er. „So wichtig kann mir der Mensch gar nicht sein, dass ich für ein dummes Wort riskieren würde, noch einmal auch nur einen Tag in die Zelle zu wandern.“

Drogensucht und Beschaffungskriminalität

Nach dem Mordversuch mit 20 Jahren landete er sechs Monate in Untersuchungshaft, kalter Entzug. Das Urteil: fünfeinhalb Jahre Zwangstherapie im Maßregelvollzug, inklusive einer zuvor zur Bewährung ausgesprochenen Strafe wegen Körperverletzung. 2009, nach vier Jahren Therapie geben Ärzte und Psychologen den 25-Jährigen auf und lassen ihn in eine Justizvollzugsanstalt verlegen. Er galt als nicht therapierbar.
Als ein Gerichtsurteil 2010 die nachträgliche Sicherungsverwahrung für nicht rechtmäßig erklärte und kippte, wurde Björn entlassen. Es begann ein Kreislauf aus Drogenkonsum und Beschaffungskriminalität. Drogenhandel, Diebstähle, Einbrüche, Raub und weniger schwere Gewalt führen zu Verurteilungen, Haftstrafen, Bewährungen, Therapieversuchen, zahllosen Rückfällen, Fluchten bis nach Rumänien, Bewährungswiderrufen, Haftstrafen. Insgesamt verbrachte Björn bis 2018 ein Drittel seines Lebens hinter verschlossenen Türen.

Der lang ersehnte Ausstieg

Nun steht Björn in seinem kaum acht Quadratmeter großen Büro – zwei Stühle, ein kleiner vollbeladener Schreibtisch, ein Regal mit Informationsmaterial, ein Plakat mit dem Rat „Hilf dir selbst, sonst hilft ihr ein Sozialarbeiter“. „Was mir geholfen hat, die Kurve zu kriegen, war ganz klar das Konzept von LÜSA“, sagt er, „das Konzept von dem betreuten Wohnen in Unna, wo ich stationär 2018 angekommen bin".
LÜSA steht für Langzeit-, Übergangs- und Stützungsangebot, eine Einrichtung des Vereins zur Förderung der Wiedereingliederung Drogenabhängiger in Unna. Kurz bevor Björn im Jahr 2018 dort ankommt, ist einer seiner wenigen Freunde an einer Überdosis gestorben. Er selbst erhält vor einer möglichen Verurteilung wegen Diebstahl und Raub noch eine letzte Haftverschonung, um den Platz bei LÜSA, für den er sich schon aus der Untersuchungshaft heraus beworben hat, anzutreten.
Nachdem er den Glauben an ein drogenfreies Leben längst aufgegeben hatte, bot ihm die Aufnahme bei LÜSA, den lang ersehnten Ausstieg aus seinem bisherigen Leben. Denn hier wusste er: Selbst bei einem Rückfall würde er nicht zurück in Haft geschickt werden, wie es sonst in vielen therapeutischen Einrichtungen üblich sei. „Das hat einen Megadruck von mir genommen.“

Eine Chance – und ein neues Leben

Auch JES NRW (Junkies, Ehemalige und Substituierte) habe ihm sehr geholfen. Die Selbsthilfe setzt sich für die Möglichkeit eines menschenwürdigen Lebens mit Drogen und somit auch für die Abkehr vom Ideal der Abstinenz ein. JES NRW ist mittlerweile Björns Arbeitgeber. Seine Aufgabe in erster Linie: Netzwerkarbeit, Kontakte – insbesondere zu Kooperationspartnern – knüpfen, halten und ausbauen, Anträge stellen, drogenspezifische Aufklärungsarbeit und die Arbeit als Streetworker.
„Ich habe mich da eingearbeitet, aber man hat mir auch Chancen gegeben. Erst einmal haben wir ehrenamtlich eine Selbsthilfegruppe hier in Unna 2019 gegründet. Über dieses ehrenamtliche Engagement hat man gesagt: Okay, wir würden dir gerne ein bisschen etwas dafür bezahlen. Das ist für mich so ein so ein krasser Vertrauensvorschuss, den ich da bekommen habe, den man dann natürlich auch nutzen muss, wenn man eine glückliche Gelegenheit bekommt.“
Heute hat Björn eine richtige Stelle. „Ich habe irgendwann ein Büro beziehen dürfen. Ich – in einem Büro. Vor vier Jahren hätte ich mich tot oder im Knast gesehen.“ Seit bald zehn Jahren nimmt Björn täglich ein medizinisches Morphium-Präparat als Ersatz für Heroin. Das befreite ihn aus dem Kreislauf von Konsum, Beschaffungsdruck und Kriminalität, zumindest was Heroin betrifft.

Jenseits der offiziellen Drogenpolitik

„Mein Status bezüglich Heroin und Kokain: Stand jetzt, würde ich sagen, dass ich süchtig bin“, sagt er. Doch zwischen Sucht und Abhängigkeit bestehe für ihn ein Unterschied. „Ich gehe sonst meiner Arbeit nach, halte meine Termine ein. Eine Abhängigkeit sehe ich nur da, wo du wirklich jeden Tag hinterherrennst und quasi gar nicht ohne den Stoff kannst.“
Die Frage, ob er sich vorstellen kann, wie sein Leben ohne Drogen verlaufen wäre, ist für ihn nur schwer zu beantworten. „Dafür ist das für mich zu früh zu normal geworden.“ Seine Antwort, die er schließlich gibt, liegt aber jenseits der offiziellen Drogenpolitik. „Ich habe ja nicht nur ausschließlich konsumiert, weil ich Probleme habe, sondern auch, weil ich da Bock drauf hatte oder habe. Ich verfluche es nicht, dass ich Drogen kennengelernt habe.“
(Quellen: Jörn Klare, lkn)
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