Dokumentarfilme über Literatur

Netflix versucht sich an Schriftsteller-Biografien

Die us-amerikanische Autorin Joan Didion bekommt im Jahr 2013 von US-Präsident Barack Obama die National Humanities Medal überreicht
Die US-amerikanische Autorin Joan Didion bekommt im Jahr 2013 von US-Präsident Barack Obama die National Humanities Medal verliehen. © dpa / picture alliance / EPA/PETE MAROVICH
Von Patrick Wellinski · 29.11.2017
"Joan Didion – Die Mitte wird nicht halten" und "Voyeur" heißen zwei neue Netflix-Dokumentationen, mit denen der Streaming-Dienst sich ein neues Genre vornimmt: literarische Feature-Filme. Und es lohnt sich, sie anzuschauen.
2013, da hat sie gut 80. Lebensjahre hinter sich, bekommt Joan Didion vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama die National Humanitary Medal verliehen – für ihr Schreiben, das ein tieferes Verständnis der Welt vermittelt. Da, in diesem Moment, ist alles schon erzählt, die Jugend in Sacramento, der späte kalte Frühling 1967, der ihre Karriere befeuerte, die schillernd-kreative Ehe mit John Gregory Dunne, die Adoption ihrer Tochter Quintana, der Tod der beiden und die Bücher darüber – das alles hat die scheue Frau in diesem Moment bereits erlebt.
Und genau deshalb steht dieser Moment auch am Ende der Netflix-Dokumentation "Joan Didion – Die Mitte wird nicht halten". Regisseur Griffin Dunne, der Neffe der Schriftstellerin, erzählt das Leben seiner Tante chronologisch: Wie aus dem schüchternen Mädchen von der Westküste eine der profiliertesten US-Autorinnen wurde, die vor allem Umbrüche und Konflikte der Gegenwart in subjektiv durchdrungenen Texten wie "Die Stunde der Bestie" oder "Das Weiße Album" festhielt.

Poetin der Lebensrisse

Die mittlerweile 83 Jahre alte Didion spricht sehr offen mit ihrem Neffen über die Stationen ihres Lebens, ohne dabei – nichts würde ihr da ferner liegen – sentimental zu werden. Der Dokumentarfilm reichert ihre Erinnerungen an, mit gelesen Passagen ihrer Werke, es kommen Familie, Freunde und Kollegen zu Wort. Und selbst ein ehemaliger Tischler der Familie erinnert sich wie Joan und ihr Ehemann ihn bei sich aufnahmen: Harrison Ford, der erst später zum gefeierten Hollywoodstar wurde.
In diesen Momenten bekommt die etwas zu brave Netflix-Produktion eine interessante Gravität, wenn sie Joan Didion als Zeitzeugin zeigt, als Chronistin des Zusammenbruchs und Poetin der Lebensrisse, die sich immer am wohlsten fühlt, wenn sie Leben von außen betrachten und erfassen konnte.
Umgekehrt verhält es sich da bei Didions Kollegen Gay Talese. Der berüchtigte Reporter ist bekannt als Grenzübertreter, jemand, der mit moralischen und ethischen Linien spielt, um in seinen Reportagen die Essenz des menschlichen Verhaltens festzuhalten. Basierend auf seinem Sachbuch "Der Voyeur" erzählen die Regisseure Myles Kane and Josh Koury im gleichnamigen Dokumentarfilm vordergründig die Geschichte des schillernden Reporters Talese der Anfang der 1980er-Jahre von Gerald Foos, einem unheimlichen Motelbesitzer beauftragt wird, ihn zu porträtieren. Den dubiosen Charakter von Gerald Foos beschreibt Taleses Redakteurin beim Wochenmagazin "The New Yorker" mit einem Wort: "Sociopath".

Ein Spanner, der akribisch Tagebuch führt

Foos hat sein Motel so gebaut, dass er jeder Zeit in die Zimmer seiner Gäste gucken kann. Um es kurz zu machen: Er ist ein Spanner. Mehr noch, ein Spanner, der akribisch Tagebuch über das Treiben seiner Gäste hält. Es schmeichelt ihm, dass Talese die Chance wittert eine große Geschichte darüber zu schreiben.
Doch Talese geht einen Pakt mit dem Teufel ein. Der Film "Voyeur" ist ein hoch spannendes und manchmal kaum zu ertragenes Duell zwischen Reporter seinem Protagonisten. Talese wird vorgeworfen, Foos Handeln zu verteidigen. Er selber hat mit Foos in seinem Motel Gäste beobachtet. Hat er sich auch schuldig gemacht? Durchbricht der Reporter die Privatsphäre, wenn er seinen Job macht?
"Die Mitte wird nicht halten" als auch "Voyeur" erweisen sich so auch als drängende Zeitdokumente. Sie mögen zwar, wie im Fall von Didion, von einem einzelnen Leben sprechen oder im Fall von Gay Talese von einem konkreten Projekt; doch letztlich erzählen beide von dem Versuch literarischer Welterklärung. Wie weit können Autoren die Gegenwart erfassen, welche Wahrheit können sie dabei zu Tage fördern?
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