Dokumentarfilm "The Velvet Underground"

Die Band gegen die Gegenkultur

09:59 Minuten
Moe Tucker, John Cale, Sterling Morrison und Lou Reed sitzen beziehungsweise stehen in einem weißen Raum. Sie tragen schwarze Kleidung, Lou Reed rechts eine Sonnenbrille. Sie haben ihre Instrumente und Verstärker bei sich.
Maureen Tucker, John Cale, Sterling Morrison und Lou Reed bildeten 1965 "The Velvet Underground". © Apple+
Todd Haynes im Gespräch mit Susanne Burg · 09.10.2021
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Die Avantgarde-Band "The Velvet Underground" war wild, unangepasst und experimentierfreudig, ihr Sound veränderte die Musikwelt: Todd Haynes' Doku über die Band lässt eintauchen ins New York der 60er-Jahre und zeigt, wie besonders die Szene dort war.
Todd Haynes neuer Film "The Velvet Underground" hatte beim Filmfestival in Cannes Premiere und ist ab 15. Oktober auf dem Streaming-Dienst Apple+ zu sehen. Der Regisseur hat Erfahrung mit Musikfilmen: Nach dem Spielfilm "Velvet Goldmine" über die Glam-Rock Ära und der eigenwilligen Bob-Dylan-Biografie "I'm Not There" hat er nun seinen ersten Dokumentarfilm über die legendäre Band gedreht. Die überlebenden Mitglieder wie John Cale und Maureen Tucker kommen in "The Velvet Underground" zu Wort, aber Todd Haynes arbeitet auch mit Avantgardefilmen der Zeit, Live-Material und anderen Tondokumenten der Zeit.
Susanne Burg: The Velvet Underground wurde zu einer sehr besonderen Zeit in einer besonderen Stadt gegründet. Wie sehr sollte der Film sowohl ein Porträt der Stadt New York sein als auch ein Porträt der Band?
Todd Haynes: Ich hoffe wirklich, dass der Film ein Porträt zeichnet von dieser außergewöhnlichen Ballung künstlerischer Energie im New York Mitte der 1960er-Jahre. Es gab natürlich in vielen großen Städten in dieser Zeit eine lebendige Musikkultur und Gegenkultur, aber wir wollen zeigen, dass New York doch noch mal sehr eigen und besonders war. Die Band hatte ihre Wurzeln in New York und kam dort zusammen, und obwohl sie weitergezogen sind und in den Jahren mit John Cale auch eine Heimat in Boston hatten, so hat New York doch erst alles möglich gemacht.
Burg: Der Avantgarde-Filmemacher Jonas Mekas sagt an einer Stelle im Film: "Wir waren keine Gegenkultur, wir waren die Kultur". Er erzählt auch davon, dass er damals ein Festival organisiert habe, das verschiedene Kunstformen zusammengebracht hat. Wie sehr war The Velvet Underground geprägt von diesem Ansatz und Kontext?
Haynes: Das Avantgarde-Kino war in vielerlei Hinsicht der Nährboden, auf dem The Velvet Underground gedieh. Bevor die Band so hieß, bevor Maureen Tucker Schlagzeugerin in der Band war, als noch Angus MacLise am Schlagzeug saß, wurden sie gefragt, ob sie nicht die Musik für die Avantgarde-Filmprogramme beisteuern könnten, die Jonas Mekas zusammengestellt hatte. Das heißt, die Band fand hier ihre Sprache, sie kam um die visuelle Kultur des Kinos herum zusammen. John Cale lebte mit dem Avantgarde-Regisseur Jack Smith in einer Wohnung. Der erste Film, den Andy Warhol jemals machte, war 1963 ein Film über Jack Smith wie er filmt. Er hieß auch "Andy Warhol Films Jack Smith Filming Normal Love".
Andy Warhol hat Jack Smith in vielen seiner Filme auftreten lassen. Es war wirklich diese durchlässige, aufregende Zeit, in der Künstler verschiedener Genres großes Interesse aneinander hatten. Sie dachten nicht territorial, sie hielten nicht an ihren Gebieten fest, sie rissen die Grenzen ein, die die Künste voneinander trennten.

Warhols Filme mit Körnigkeit und Dreck

Burg: Sie haben ja auch einige der Avantgardefilme mit hineingenommen. Wie inspirierend war es für Sie als Filmemacher, all das Archivmaterial zu sichten?
Haynes: Das hat mich sehr genährt, als Künstler und als Filmemacher. Denn die Kunstszene war damals so divers. Ich kenne Andy Warhols Filme schon lange, und einige davon gehören zu meinen absoluten Lieblingsfilmen. Sie waren radikal und Konzeptkunst, aber sie haben auch eine visuelle Schönheit und Körnigkeit und eine Portion Dreck, so dass sie eine große Tiefe und Menschlichkeit besitzen.
Andy Warhol mag vielleicht das digitale Zeitalter vorweg genommen zu haben in seinen seriellen Siebdruck-Bildern von berühmten Personen oder Objekten aus Zeitungen. Aber er wäre nicht als digitaler Künstler berühmt geworden. Er musste Kunst in 16 mm machen, mit Siebdruck und all den kleinen Fehlern. Man fühlt bei ihm die Textur; bei den Filmen die Körnigkeit von 16 mm; die Schönheit, wenn die Filmrollen gewechselt werden.
Diese sinnliche Schönheit des Zelluloids ist spürbar und prägt seine Filme. Und man fühlt die Kultur, das Interesse und die gegenseitige Inspiration von Künstler zu Künstler.

Fiktion und Dokumentarfilm

Burg: Als ein Regisseur ist es ja eine Herausforderung, Bilder von realen Menschen – egal ob sie noch leben oder schon tot sind – auf die Leinwand zu bringen. Sie haben sich in Ihren Filmen Bob Dylan gewidmet, David Bowie und The Velvet Underground. In "I’m not There" haben Sie einen sehr eigenen künstlerischen Zugang gewählt, indem Sie verschiedene Facetten von Bob Dylan mit unterschiedlichen Schauspielern zeigten. In einem Dokumentarfilm gibt es ebenfalls die Herausforderung: Wie kann man den Geist einer Band in einen Film bannen? Wie unterschiedlich sind die Herausforderungen bei einem dokumentarischen und einem fiktionalen Film in dieser Hinsicht?
Haynes: Wenn ich für einen fiktionalen Film über einen einflussreichen Künstler wie David Bowie oder Bob Dylan Recherche betreibe und dem Archivmaterial mit Bildern von ihnen begegne, dann denke ich immer wieder: "Ich bekomme das nie im Leben besser hin." Das Originalbild ist so perfekt und wunderschön, die Textur, und wie die Person aussieht mit der Haarfrisur und der Kleidung und dem Blick in dem speziellen Moment.
Bei fiktionalen Filmen greife ich dann auf etwas andere Ansätze zurück, so dass ich nicht in Konkurrenz zum ursprünglichen Bild trete. Ich sehe es stattdessen als etwas Flankierendes, was als Tandem funktioniert. Und das Publikum kann diese Verbindungen selber herstellen.
Todd Haynes hat weiße Haare und blickt in die Ferne. Der Hintergrund verschwimmt im Unscharfen.
Regisseur Todd Haynes beim Filmfestival in Cannes.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Regina Wagner
Für diesen Film über The Velvet Underground hatten wir das ganze Originalmaterial. Es war Material, das allgemein nicht so bekannt war wie die berühmten Fotos von Bob Dylan oder David Bowie. Vor allem, wenn es um die Avantgarde-Filme geht. Es bot sich also an, diese Kultur zu nutzen.
Die Musik von The Velvet Underground ist dagegen bekannt und Teil unseres Kanons. Mir stellte sich die Frage: Wie kann man Leute dazu bringen, dass sie das Gefühl bekommen, die Musik ganz frisch und zum ersten Mal zu hören? Und dafür war es zentral, diese Bilder zu nehmen und das Publikum in die Kultur einzuhüllen und sich Zeit zu nehmen, bevor überhaupt der erste Velvet Underground-Song ertönt. Es sollten die vielen Einflüsse klar werden, die bei der Band zusammen kamen.

Visuelle Sprache der Zeit

Burg: Und wie wichtig war Ihnen dabei die eigene künstlerische Form Ihres Filmes, um das Publikum ins New York der 60er-Jahre eintauchen zu lassen?
Haynes: Das war sehr wichtig. Und es bedeutete, dass wir nicht nur einfach Ausschnitte aus den Filmen zeigen wollten, sondern dass wir die Filme in ihrer Form ernst nehmen – auch mit ihren Split Screens und ihren mehreren Leinwänden, was in den 60ern aus der Designkultur immer mehr auch in der Filmkultur ankam. Das hat das Publikum damals überrascht und verwirrt und schien uns relevant für die visuelle Sprache der Zeit.
Burg: Ich fand es auch interessant, dass Sie die Reise der Band nach Kalifornien 1967 mit hineingenommen haben. Man sieht Bilder von der Band ganz in schwarz gekleidet und wie sie dann mit der bunten kalifornischen Szene der Zeit konfrontiert wird. Maureen Tucker sagt: "Sie haben uns mit den Hippies auf die Bühne gestellt. Und wir waren vollkommen gegen die Hippie-Kultur." Wie sehr wollten Sie The Velvet Underground auch in den kulturellen amerikanischen Kontext der Zeit stellen?

Abgrenzung von der Hippie-Kultur

Haynes: Mir ging es darum, die Ablehnung von bestimmten Werten zu zeigen. Da ging es nicht nur um eine Gegenkultur, sondern um bestimmte Normen und Konventionen. New York im Allgemeinen und die Band und die Factory im Besonderen unterschieden sich doch sehr vom Rest der USA.
Was die Mitglieder von The Velvet Underground im Film thematisierten, war, dass es auch in der Gegenkultur, in der Hippie-Kultur eine Menge heteronormativer und konventioneller Ideen gab. Es gab ein großes Maß an Frauenfeindlichkeit und klassischer Vorstellungen von Männlichkeit. Frauen wurden nach wie vor zu Objekten gemacht.
Amy Taubin spricht zwar davon, wie es auch in der Factory eine Hierarchie gab, wenn es um Schönheit ging. Weil es eine so queere Kultur war, hatten Frauen aber eine sehr privilegierte Stellung, denn sie waren keine sexuellen Objekte. Sie waren Kunstobjekte. Das hat trotzdem eine Hierarchie der Schönheit geschaffen, wer die attraktivste und frischeste ist. Es gab eine große Konkurrenz, aber ich glaube, dass die queere Kultur die Factory und auch die Band durchzogen und geprägt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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