Dokument einer Umbruchszeit

Peter Villwock und Martin Kölbel im Gespräch mit Joachim Scholl · 06.12.2010
Bertolt Brecht ist ein moderner Klassiker, sein Werk nahezu in Gänze editiert - mit Ausnahme seiner Notizbücher. Einen erster Band dieser Notizbücher aus den Jahren 1927 bis 1930 haben Peter Villwock und Martin Kölbel herausgegeben. In diese Zeit falle der Wandel Brechts vom jungen Wilden zum reflektierten Klassiker, sagen die beiden.
Joachim Scholl: Er ist einer der literarischen Riesen des 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht. Das Theater hat er geprägt und verändert wie kaum ein zweiter Dramatiker, aber auch der Lyriker Brecht ist mittlerweile ein Klassiker. Selbstredend sind alle Facetten seines Lebens und seines Werks Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, und jetzt gibt es Neues zu entdecken: in seinen Notizbüchern, die erstmals in Gänze veröffentlicht werden. Ein erster Band ist jetzt erschienen, herausgegeben von den Philologen Peter Villwock und Martin Kölbel. Beide sind jetzt im Studio, ich grüße Sie!

Martin Kölbel: Hallo!

Peter Villwock: Hallo!

Scholl: Zum Editionsplan vieler Klassikerausgaben zählt die für den Laien irritierende Praxis, oft nicht von vorn anzufangen, mit Band eins also, nach Ihrer Zählung beginnen Sie mit Band Nummer sieben: Notizbücher aus den Jahren 1927 bis 1930. Warum gerade mit diesem?

Kölbel: Der Grund ist, weil diese Jahre 1927 bis 30 für Bertolt Brecht eine sehr wichtige Umbruchszeit sind. In dieser Zeit entwickelt er sich vom Anarchisten zum Sozialisten, es heißt, er entdeckt eigentlich zum ersten Mal so richtig, was es bedeutet, in die gesellschaftliche Praxis einzugreifen und nicht bloß in seiner Schreibstube zu sitzen und Werke zu erfinden.

Scholl: Das heißt, Sie haben sie ausgewählt, weil sie für Sie bedeutsamer waren als jetzt andere?

Villwock: Ja. Also es ist in dem Sinne ein guter Einstieg, weil hier alles zusammenkommt bei Brecht: noch der wilde Junge und dann schon der theoretisch ambitionierte, reflektierte beginnende Klassiker. Es sind Werke wie "Mahagonny", die "Dreigroschenoper", mit denen er zum Weltautor wird, "Fatzer", die "Versuche"-Reihe, alles kommt in dieser Zeit zusammen.

Kölbel: Also, was ein zentrales Moment in den Notizbüchern ist, sind die "Entwürfe für eine dialektische Dramatik". Da hat er mehrere Anläufe unternommen, das Theater in seinem gesellschaftlichen Kontext zu beschreiben und gleichzeitig eine neue Perspektive, sprich einen Funktionswechsel des Theaters zu erschreiben. Er hat da sehr lange sich abbemüht zwischen einerseits sehr harscher Kritik, vor allem an Alfred Kerr, andererseits versucht diese Kritik als Symptom zu begreifen und daraus eine neue Theaterform zu entwickeln. Und diese Theaterform hat dann solche Vorstellungen wie die Abschaffung des Zuschauers, seine Integration als Mitspieler oder aber auch der Zuschauer als ein Mündiger, der sich nicht einfach was konsumieren lässt, sondern im Kollektiv des Bühnenensembles mitwirkt.

Villwock: Das ist die berüchtigte Lehrstückdramatik, die man hier im Entstehen beobachten kann. Man muss aber sagen, dass zur gleichen Zeit immer auch schon der Ironiker Brecht am Werk ist, er entwirft eine Lenin-Revue mit parodistischen Gassenhauern, die dann auf die KPD und die Sowjetunion und Lenin umgemünzt werden. Dann findet sich daneben eine Buchnotiz von Stalin, schon 1929, den er sich zur Lektüre notiert, dann wieder fundierte Anmerkungen zu Marx und zu Marx' Rechtsphilosophie. Also Brechts Beschäftigung mit Politik und Sozialismus insbesondere ist von Anfang an komplex und vielschichtig.

Scholl: Wir haben gerade gehört, was in den Notizbüchern steht, so ein Sammelsurium auch von Einträgen. Wie hat er diese Notizbücher geführt, Herr Villwock? Man weiß ja, dass er ein ziemlich schlampiges Genies gewesen sein soll?

Villwock: Ja, also das ist das Medium, was er verwendet hat, wenn keine Schreibmaschine in der Nähe war. Zu dieser Zeit war er schon voll auf das damals neue Medium Schreibmaschine umgestiegen, hatte auch seine Sekretärinnen, Elisabeth Hauptmann und andere, die für ihn die Texte dann abgetippt haben. Und nur, wenn keine Schreibmaschine zur Hand war, hat er das Notizbuch benutzt, unterwegs, überall, oft mehrere parallel geführt. Dafür sind die Notizbücher bei ihm, das ist eigentlich der einzige Bereich seines Gesamtschaffens, den er ganz alleine nur für sich selber niedergeschrieben hat. Ansonsten ist er natürlich immer der Kollektivautor gewesen.

Scholl: Brecht war ja auch wirklich ein geistiges Chamäleon, hat Stil und Wesen in verschiedenen Phasen extrem gewandelt, also so vom jungen Punkrock-Anarchisten des "Baal" zum Proletkultmann mit Zigarre und Schiebermütze – Sie haben es vorhin auch schon erwähnt, Herr Kölbel. Später wird er so der literarische Laotse, so mit weltweisem Tempelklang in seiner Lyrik. Was würden Sie sagen, erfährt man über ihn auch persönlich aus diesen Notaten, über seine Persönlichkeit? Also das Leben Brechts interessiert ja mittlerweile genauso stark wie sein Werk.

Villwock: Ja, man sieht hier, wie das praktisch untrennbar ist, Werk und Leben bei Brecht. Das ist osmotischer und eine Einheit mehr als bei jedem anderen Autor. Um ein Beispiel zu nennen, Brechts berühmte Auto-Obsession: Er hat ja sein erstes Auto, gleich eine Luxuskarosse, für ein Gedicht bekommen, die Entwürfe zu diesem Gedicht finden sich im Notizbuch, es finden sich aber auch dann Auszüge aus der Motorgebrauchsanweisung – er hat offenbar auch selber dran gebastelt – und Entwürfe für eine Auto-Komödie. Autonummern werden notiert, Autowerkstätten – also man sieht, wie das von Werk und Leben hin und her geht. Und solche Beispiele könnte man viele nennen: Brechts Gesundheitszustand, sein Arzt, der dann in die "Keuner"-Geschichten eingeht, Brechts Affären mit Frauen – also ich nenne Carola Neher, die eine Hauptrolle in der "Dreigroschenoper" spielte, die in diesem Notizbuch auch mit Telefonnummer auftaucht und aber auch als Hauptfigur eines Erzählungsentwurfs und so weiter.

Scholl: Sie sind beide intime Brecht-Kenner, hat Sie bei dieser Erarbeitung der Notizbücher auch etwas noch ja sehr überrascht, haben Sie gesagt, ach, guck mal einer an, das hätte ich nun nicht gedacht oder geglaubt, das zu finden – gab es solche Momente für Sie beide?

Kölbel: Also für mich, der eher den Klassiker Brecht kannte, wie er am Theater ja auch noch gespielt wird, war sehr überraschend zu sehen, wie frei er doch mit seinen Ideen umgeht, was für ein gieriger Schreiber er ist. Wenn er eins nicht ertragen kann, dann sind es festgestellte Sätze, Sachen, die Ewigkeitswert gewinnen könnten. Und da hat er doch immer ein sehr gutes Gespür gehabt, das einmal Gesagte wieder in Bewegung zu setzen. Und das finde ich eine sehr faszinierende Erkenntnis.

Kölbel: Für mich hat sich vor allem vielleicht nicht inhaltlich, aber einfach die Art und Weise, wie er geschrieben hat, Brecht als unglaublich lebendig noch mal herausgestellt. Da sieht man wirklich, wie die Gedanken kommen, wie sie sich gegenseitig befruchten und beeinflussen, wie das wandert von einem Kontext in den anderen. Das hat man vorher immer nur gehört, jetzt sieht man es erstmals, und wenn man damit so wie wir täglich arbeitet, dann wird Brecht einfach unglaublich lebendig.

Villwock Ihre Arbeit hat bei den Herausgebern der Berliner und Frankfurter Werkausgabe schon längere Zeit für schäle Blicke gesorgt, Sie haben diese Herausgeber auch kritisiert, dass also diese Notizbücher doch mäandernd durch das Werk verstreut seien. Jetzt gibt es doch böse Worte über Ihre Ausgabe, das sei also doch ein Brecht in Bruchstücken – das ist ja nicht so schön, dass man sich so streitet unter Brecht-Gelehrten, oder?

Villwock: Ja, also ich finde gerade umgekehrt. Wir zeigen jetzt erstmals die Notizen nicht als Bruchstücke, sondern in ihrem originalen Zusammenhang. Notizen sind per definitionem natürlich bruchstückhaft und abgerissen, aber jetzt kann man sie erstmals sehen, wie Brecht sie wirklich niedergeschrieben hat. Und die Vorgängerausgaben waren eben alles Leseausgaben, die er einfach nur, was einigermaßen textförmig war und zu einem Lesetext zu redigieren war, herausgenommen haben und alles andere weggelassen. Von daher sehen wir uns nicht unbedingt jetzt in Auseinandersetzung und in Konfrontation dazu, sondern wir ergänzen die und stellen die Brecht-Edition auf ein wissenschaftliches Fundament.

Scholl: Sie sitzen bereits am nächsten Band, den Notizbüchern aus den Jahren 1918 bis 1920, der junge Brecht spricht hier, der sich noch einen Namen machen muss. Bestimmt eine interessante Lektüre – verraten Sie uns schon ein bisschen was darüber?

Kölbel: Also das besondere Schmankerl ist, dass das Notizbuch eins tatsächlich eine Erstveröffentlichung darstellt, weil es ist überschrieben mit "Lieder zur Klampfe – von Brecht und seinen Freunden", und wir werden nun erstmals die Einheit dieses Werkes präsentieren, nämlich von Musikskizzen und von seinen Gedichtentwürfen, die er zusammen mit Freunden, also mit der Augsburger Clique, erstellt hat. Und man kann hier sehr schön nachvollziehen, wie einerseits Brecht versucht, die verschiedenen Klangebenen von Sprache und Musik miteinander in Verbindung zu bringen, und man sieht auch, dass er schon damals sehr als Kollektivarbeiter unterwegs war, mit der schönen Pointe, dass er am Schluss natürlich seinen Namen drüber setzt, nämlich Bertolt Brecht, und seine Freunde anonym bleiben.

Scholl: Wann wird dieser Band erscheinen?

Villwock: Im nächsten Jahr. Unser Vorhaben ist – und ich denke, das ist realistisch – pro Jahr ein Band.

Scholl: Nun also erst mal die Notizbücher aus den Jahren 1927 bis 1930. Sie sind im Suhrkamp-Verlag erschienen, herausgegeben von unseren beiden Gästen, Peter Villwock und Martin Kölbel. Alles Gute für die weitere Arbeit Ihnen und schönen Dank für Ihren Besuch!

Kölbel: Tschö!

Villwock: Danke auch!
Mehr zum Thema