Dörte Hansen bereist ihr Zimmer

Durch einen Kontinent, den niemand je vermessen hat

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Porträtaufnahme Dörte Hansen, mit kurzem blonden Haar und schwarzem Pullover auf der Frankfurter Buchmesse.
Dörte Hansen wurde durch ihren 2015 veröffentlichten Roman "Altes Land" bekannt. © imago / teutopress
Von Dörte Hansen · 26.03.2020
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Ein großes Abenteuer in den eigenen vier Wänden? In der Tradition des französischen Schriftstellers Xavier de Maistre begibt sich Dörte Hansen auf eine "Reise um ihr Zimmer" – und trifft dort auf allerhand morgenmufflige, halb fertige Gestalten.
In meinem Zimmer drängeln sich am frühen Morgen schon die Ausgedachten und die Angefangenen, die Vorgeschriebenen und die Verworfenen. Halb fertige Gestalten, die mich jetzt noch für Monate begleiten werden.
Oft sind sie morgens ziemlich unleidlich, vor allem die Verworfenen, die lauthals ihre zweite Chance einfordern. Die anderen protestieren, weil sie finden, dass ihr Name nicht zu ihnen passt, oder sie schmollen, weil sie größer sein möchten, gewichtiger, sympathischer und klüger. Mehr Geist gefälligst. Oder mehr Witz! Und manche spielen nervtötend lange Verstecken, sie kommen einfach nicht heraus, wenn ich sie rufe.
Dabei müssen wir jetzt los.
Die Wand des Zimmers, morgens noch aus Stein und weiß gestrichen, löst sich an guten Tagen wie ein dichter Nebel auf. Wird erst dünner, wird dann gläsern und verschwindet schließlich, wie der Schreibtisch, wie die Bücher, wie die Teetasse, wie meine Tastatur, mein Bildschirm.

Nichts als die vage Ahnung eines Ziels

Dann breche ich auf mit meinen Angefangenen. Wir ziehen in die Wildnis. Ein ziemlich unsortierter Haufen schlägt sich irgendwie durch einen Kontinent, den niemand je vermessen hat. Es gibt in diesem Neuland keine Karten, keine Wege, nur die vage Ahnung eines Ziels.

Gerade müssen wir viel Zeit zu Hause verbringen. Dass das nicht langweilig ist, sondern auch ein großes Abenteuer sein kann, hat vor mehr als 200 Jahren, 1794, der französische Schriftsteller Xavier de Maistre bewiesen. Wegen eines Arrests, zu dem er nach einem Duell verurteilt worden ist, musste er 42 Tage zu Hause verbringen – und hat sich deshalb zu einer "Reise um mein Zimmer" aufgemacht, auf der er das Vertraute als das Fremde, das Gewohnte als das Überraschende entdeckt hat. Wir haben Schriftsteller gebeten, für uns auch solche Expeditionen durch ihr Zimmer zu unternehmen. Den Auftakt machte Lutz Seiler, ihm folgte Zsuzsa Bánk. Heute bereist Dörte Hansen ihre Wohnung. Zuletzt erschien von ihr im Penguin-Verlag der Roman "Mittagsstunde".

Hier legen wir jetzt Trampelpfade an, die Angefangenen, halb Fertigen und ich. Durchqueren Flüsse und besteigen Berge, bauen Brücken, Hütten, Dörfer. Anfangs gehe ich voran und habe große Mühe, meine Truppe anzutreiben und voranzubringen, aber irgendwann stelle ich fest, dass mich einer nach dem anderen überholt. Dann muss ich ihnen nur noch folgen.
Das geschieht an guten Tagen, wie gesagt.

Abwarten und Tee kochen

An schlechten Tagen bleibt die Wand in meinem Zimmer eine Wand.
In allen Ecken lungern die halb fertigen Gestalten, trommeln genervt mit ihren Fingern auf der Schreibtischplatte, dämmern lethargisch vor sich hin oder spielen immer wieder öde Abklatschspiele: In Mutters Stübele, da geht der hm, hm, hm, in Mutters Stübele, da geht der Wind.
Ich koche Tee und warte ab und klopfe hin und wieder an die weiße Wand.
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