Diversität versus Uniformität

Die deutsche Polizei und die Einwanderungsgesellschaft

29:23 Minuten
Auszubildende der Polizeischule beobachten einen Einsatz des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) am 23.10.2012 in der Landespolizeischule in Hamburg.
Eine zunehmende Diversität in der Belegschaft der Polizei wird bereits ab der Polizeischule gefördert. © dpa/ Christian Charisius
Von Luise Sammann · 21.09.2020
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Racial Profiling, struktureller Rassismus: Manche halten diese Vorwürfe gegen die Polizei hierzulande für nicht haltbar – weil deren Belegschaft seit einigen Jahren immer diverser wird. Aber schafft es die Vielfalt auch in den polizeilichen Alltag?
Moderne Musik aus Bosnien. Die junge Frau auf dem blauen Bürostuhl hält ihr Smartphone in die Luft, zieht die Lautstärke noch ein bisschen höher.
Pechschwarze, extra lange Wimpern, stark geschminkte Lippen, neonorangene Fingernägel. Selma, 18 Jahre, aus Berlin, repräsentiert auf den ersten Blick ein Klischee – nur um es dann gleich wieder zu widerlegen. Die Tochter bosnischer Eltern hat im Sommer erfolgreich ihr Abitur bestanden. Jetzt will sie studieren. An der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Selma wird Polizistin.
Polizeianwärterin Selma sitzt entspannt bei ihrem Coaching.
Polizeianwärterin Selma hat im Sommer erfolgreich ihr Abitur bestanden.© Deutschlandradio/ Luise Sammann
"Es war erst mal ein Bauchgefühl, muss ich sagen", erzählt sie. "Ich fand das schon immer sehr interessant, zumal ich auch nicht so richtig lange irgendwo sitzen kann oder immer das Gleiche machen möchte. Und hinzukommt, dass ich total gerne mit Menschen bin, Kontakt habe. Und ihnen auch helfe, mit ihnen rede, auch mit verrückten Menschen oder Menschen aller Art. Ich liebe das."

Bauchgefühl und gezielte Vorbereitung

Abwechslung, Verantwortung, ein bisschen Jura, ein bisschen Psychologie: Dass Selma bei der Polizei genau richtig wäre, ergab auch der Berufsfindungstest, den sie nach dem Abitur im Berliner Wunderkind-Institut absolvierte. Einem Coaching-Institut, in dem Politikwissenschaftler Damir Softic Bewerbern wie Selma bei der Berufswahl oder der Karriereplanung hilft und sie gezielt auf die anspruchsvollen Tests bei der Polizei und anderswo vorbereitet.
"Es gibt ja eine Art Fähigkeitstest. Einen Skill-Test. Er wird auch eingesetzt bei der Unternehmensberatung, oder auch auf andere Ausbildungsplätze werden ähnliche Tests eingesetzt. Von daher: Ja, alle, die sich gut vorbereiten möchten auf so einen Test, können alleine im Einzel-Coaching bei uns sich darauf vorbereiten oder in Gruppen-Coachings. Das sind ja häufig so Stresstests. Man hat dann wenig Zeit, und man muss dann mathematische Übungen lösen, sprachliche Aufgaben, Logik, Aufgaben und so weiter."
Über mehrere Sitzungen hatte Selma sich zusammen mit dem Coach auf ihren Test vorbereitet. Als sie schließlich vor den Aufgaben saß, fielen diese ihr überraschend leicht.
Die Zugangshürden für den Polizeidienst in Deutschland sind hoch. Nach den medizinischen Untersuchungen steht als Nächstes ein persönliches Auswahlgespräch an.
Coach Softic setzt sich Selma mit Stift und Zettel gegenüber, schaut auf seine Uhr. Die Zeit läuft.
Damir Softic erklärt vor einem Flipchart
Berufscoach Damir Softic kennt Ängste und Probleme derer, die sich mit einem nicht deutsch klingenden Namen für den Staatsdienst bewerben.© Deutschlandradio/ Luise Sammann
"Jetzt wollen wir ja noch mal auf die Interviewsituation eingehen. Die wollen ja so ein bisschen herausfinden, wie du eigentlich mit Verantwortung umgehst. Und da werden dann manchmal so politische Fallbeispiele geschildert oder Situationen aus dem Alltag. Die wollen dann sehen, wie du dazu stehst oder wie du da reagieren würdest."
Softic lässt die 18-Jährige laut über verschiedene Szenarien nachdenken, in denen sich Themen wie Sicherheit und Datenschutz beziehungsweise Freiheit gegenüberstehen – beim Einsatz von sogenannten Body-Cams durch Polizisten zum Beispiel. Auch den Fall eines von Terroristen entführten Passagierflugzeuges, das auf ein Atomkraftwerk zusteuert, spielt er mit ihr durch. Wie soll die Bundesregierung entscheiden – das Flugzeug mit seinen Insassen abschießen, um eine größere Katastrophe zu verhindern?

Gute Chancen für den gehobenen Polizeidienst

Selma überlegt, wägt ab, begründet selbstbewusst ihre Antworten. Ihre Chancen, schon bald in den gehobenen Dienst der Berliner Polizei aufgenommen zu werden, stehen gut. Manchmal, sagt sie, kann sie ihr Glück selbst kaum fassen. Sie, die einzige Schülerin mit einem sogenannten Migrationshintergrund in ihrer Abiturklasse.
Sie, das Mädchen mit dem angeblich komplizierten Namen.
"Früher hatte ich immer Angst, weil ich es irgendwie gespürt habe und viele auch mich mal gefragt haben, woher ich komme", sagt sie. "Und woher ich wirklich komme, das ist diese Frage. Bei anderen Dingen sage ich meinen Namen, muss ihn immer buchstabieren und versuche, ihn so ein bisschen einzudeutschen. Damit die es verstehen."
Berufscoach Damir Softic kennt die Ängste und Probleme derer, die sich mit nicht deutsch klingendem Namen oder Aussehen für den Staatsdienst bewerben. Sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus zahlreichen Trainings an Schulen und Berufsinformationszentren in Berlin und Umgebung.
"Dann kommen natürlich schon mal die Fragen: Es gibt da diese arabische Familie in den Medien. Die hat ja auch den Nachnamen. Und wie gehe ich damit um, wenn ich darauf angesprochen werde? Oder dass man das Gefühl hatte, bei vorherigen Auswahlgesprächen schon irgendwie verdächtigt zu werden", erzählt er. "Dann stärken wir so ein bisschen die Bewerber in ihrem Selbstbewusstsein, versuchen dann auch in den Simulationen der Interviews den Leuten schon mal vorab diese Situation des Auswahlgesprächs zu geben und dann die Ängste zu nehmen."
Bewerberinnen wie Selma rät der Coach, ihren sogenannten Migrationshintergrund, wann immer möglich, als etwas Positives anzunehmen, anstatt sich dafür zu schämen.
"Es fängt ja schon bei dem Bewerbungsschreiben an", sagt er. "Und da habe ich mal eine Klientin aus Nordrhein-Westfalen gehabt, die meinte: Ja, ich muss ja jetzt hier in dem Motivationsschreiben ja auch was zu meinem Bezug zur Polizei schreiben. Und sie stammt auch aus Ex-Jugoslawien, und da war es zum Beispiel ratsam zu sagen, dass man Erfahrung mit einem Staat hat, der zusammengebrochen ist. Was es eigentlich heißt, wenn dort die Polizei nicht mehr intakt ist, wenn das Sicherheitssystem des Staates nicht mehr funktioniert. Wie wichtig ist es? Was für Erfahrungen man da schon als Kind gemacht hat? Deswegen: Das ist die Motivation, heute eigentlich am Sicherheitsapparat des Staates mitzuwirken und für Sicherheit in der Gesellschaft zu sorgen. Also das kann man ruhig nach vorne kehren und dann auch damit punkten und Pluspunkte sammeln."

Der erste Polizist in der Familie

Pause. Softic stellt einen Teller mit Kuchen auf den Tisch, bittet auch Malik dazu.
Der 23-Jährige steht kurz vor dem Abschluss seines Polizeistudiums. Zurzeit sitzt er an seiner Bachelorarbeit. Damir Softic, der neben dem Coaching am Wunderkind-Institut auch als Dozent an den Polizeihochschulen in Münster und Berlin lehrt, betreut ihn dabei. Auch Maliks Eltern kamen einst aus Bosnien nach Berlin. Einen Polizisten gab es in seiner Familie bisher nicht.
Polizeianwärter Malik im Porträt.
Malik steht kurz vor dem Abschluss seines Polizeistudiums.© Deutschlandradio/ Luise Sammann
"Klar hatte man früher dieses Bild auch durch Freunde oder so. Dieses: 'Scheißbullen' oder so. Und dass wir mit Migrationshintergrund … Wir werden immer kontrolliert. Solche Klischees halt. Und ja, natürlich war das so im Kopf. Aber bei mir haben sich alle, Freunde, Familie, Bekannte, alle eigentlich sehr darüber gefreut und meinten, dass das was Gutes ist."
Malik und Selma stehen für einen Trend, der inzwischen in vielen Großstädten bemerkbar ist. 32 Prozent der neueingestellten Polizeianwärter in Berlin hatten im Jahr 2019 einen sogenannten Migrationshintergrund. In Baden-Württemberg waren es 27 und im Saarland, als Schlusslicht der Statistik, immerhin noch zwölf Prozent. Die deutsche Polizei wird vielfältiger!

Auffällig gemischte Kurse an der Polizeihochschule

"In der Polizeihochschule, da sind auch die Kurse gemischt. Das ist sehr auffällig. Es gibt Menschen mit türkischem, mit arabischem Migrationshintergrund, mit arabisch-libanesischem oder palästinensischem und aus Ex-Jugoslawien und Russlanddeutsche und asiatische Leute mit vietnamesischem Hintergrund. Also so bunt wie Berlins Migrationsbevölkerung auch ist, sind auch die Kurse bei der Polizei."
Eine Entwicklung, die mehr als nur ein Zufall ist, so Dozent Softic.
"Wir wissen ja, deutsche Einwanderungsgeschichte hat ja stark mit den Anwerbeabkommen zu tun, der 50er- und 60er-Jahre. Und da sind ja vor allem sogenannte Gastarbeiter geholt worden. Diese Jobs im Bergbau oder in der Stahlindustrie gibt es aber nicht mehr. Und man hat dann gesehen an den Eltern oder Großeltern, wie unsicher die gelebt haben mit ihren Jobs. Also ist der Polizeiberuf sehr sicher, wirkt sehr sicher. Man kann die Verbeamtung damit erreichen, und das ist ein hohes Motiv."
Softic deutet auf Bachelorstudent Malik, dessen Vater 20 Jahre lang auf dem Bau schuftete, später als Taxi- heute als Busfahrer arbeitet. Die Mutter kümmerte sich erst um die Kinder, arbeitete dann mal hier mal dort in wechselnden Minijobs.
Sohn Maliks Zukunft sieht schon jetzt ganz anders aus. Eine Tatsache, die die ganze Familie mit Stolz erfüllt.

"Ein sichtbarer sozialer Aufstieg"

"Das ist natürlich, wenn man in den Polizeidienst eintritt, für die Herkunftsfamilien ein sichtbarer sozialer Aufstieg", sagt Daniela Klimke, Professorin an der Polizeiakademie im niedersächsischen Nienburg. Die Soziologin beschäftigt sich seit bald 20 Jahren mit dem Wandel der Polizei in der Einwanderungsgesellschaft.
"Man rückt vor in die staatlichen Berufe, tatsächlich auch in den Kernbereich von Staatlichkeit", sagt sie. "Und da sind viele Familien auch zu Recht sehr stolz auf ihre Kinder, wenn ihnen das gelingt."
Doch auch der Staat beziehungsweise seine Organisationen profitieren. In einem Land, in dem mindestens jeder vierte Bürger eine Zuwanderungsgeschichte hat, kann eine Institution, die diese Vielfalt nicht spiegelt, auf Dauer nicht bestehen, ist Klimke überzeugt. Fast überall in Deutschland werden Anwärter wie Malik und Selma aus Berlin deswegen inzwischen gezielt angeworben.
Baden-Württemberg machte in den 90ern den Anfang. "Bei dringenden dienstlichen Bedürfnissen", so hieß es, sollten auch Deutsche mit Migrationshintergrund oder gar Ausländer in den, lange Zeit auffällig homogen besetzten, Polizeidienst eingestellt werden.
Hintergrund für diesen Schritt dürfte dabei kein allgemeines Interesse an einer vielfältigen Organisation gewesen sein, sondern eine eher funktionale Begründung: Dem deutschen Sicherheitsapparat fehlte der Zugang zu einem stetig wachsenden Teil der Bevölkerung.
In Berlin spiegelt der Name einer Einheit aus der damaligen Zeit deutlich den in den 90er-Jahren längst nicht nur bei der Polizei vorherrschenden Zeitgeist: AGA hieß die Einheit, die zunächst nur in den migrantisch geprägten Bezirken Wedding und Kreuzberg eingesetzt wurde: "Arbeitsgebiet gezielte Ausländerüberwachung".
"Das hat sich dann entwickelt, zur 'Arbeitsgruppe Ausländer'. Es waren sehr wenig Kollegen dort in Zivil, "erinnert sich Tayfur U. (*). Er ist heute Ansprechpartner für interkulturelle Aufgaben bei der Berliner Polizei.
"Im Endeffekt ging es schon darum, Passkontrollen, Überprüfungen, rechtliche Themenbereiche, Illegales und Unterstützung bei Rückführung – das war schon ihr Themengebiet", erklärt er. "Wenn zum Beispiel eine Funkwagenbesatzung einen Menschen überprüft hat, sagen wir mal mit einem ausländischen Pass: Die Kollegen kannten sich nicht aus. Diese Kollegen von der AGA wurden dann hinzugezogen. Die waren sehr repressiv tätig, aber in einem anderen Bereich haben sie auch schon Netzwerkarbeit gemacht. Das heißt, sie haben bewusst Kontakt zu ausländischen Communitys gesucht. Das heißt, nicht nur bei Überprüfungen, wenn was passiert, sondern vorher schon geguckt: Mensch, was macht der denn da? Gibt es auf dem Hinterhof eine Moschee? Wir gehen mal gucken ins Teehaus. Vielleicht können wir auch mal Kontakt aufnehmen."

Diversität als ein Qualitätskriterium

Erst viel später begann sich die Einsicht durchzusetzen, dass eine diverse Polizei nicht nur Mittel zum Zweck, sondern für ein Einwanderungsland wie Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein sollte. In Berlin etwa, wo Tayfur U. seit 25 Jahren für die Polizei arbeitet, hat bereits mehr als jeder dritte Bürger eine Zuwanderungsgeschichte:
"Es wurden mehr Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund eingestellt, was auch gut und richtig ist. Diese Leute sind aus der Stadt. Diese Leute sind hier geboren, aufgewachsen, und sie leisten ihren Dienst und gehen praktisch in die Einsätze rein, wenn man das so möchte. Die Kollegen arbeiten an allen, mittlerweile in allen Sachgebieten, allen Bereichen, operativ, aber auch strategisch. Und es ist eine Erfolgsstory."
Das allerdings, so weiß Soziologin Daniela Klimke, sahen vor allem am Anfang längst nicht alle bei der deutschen Polizei so.
Es war eine verordnete Diversität, und es gab auch gewisse Widerstände in den polizeilichen Reihen", sagt sie. "Aber inzwischen ist es doch weitgehend zur Selbstverständlichkeit geworden. Das heißt, inzwischen gilt es einfach als ein Qualitätskriterium, dass man im gewissen Maße in den eigenen Reihen die Bevölkerung repräsentiert."
Und so werden heute bundesweit in Imagefilmen mehr Beamte mit sichtbarem Migrationshintergrund einbezogen, Flyer und Broschüren erscheinen teilweise mehrsprachig und liegen in Botschaften oder Kulturzentren aus. Polizisten wie Tayfur U. – dessen Mutter einst als Putzfrau bei der Berliner Polizei begann und ihrem Sohn so die erste Tür in die Behörde öffnete – werden bewusst als Vorbilder eingesetzt, die auf Messen oder bei Berufsberatungszentren zum Einsatz kommen.
Auch Savas Gel, türkischstämmiger Leiter des Dezernats für Kriminalitätsbekämpfung und Prävention im niedersächsischen Hannover, kennt und unterstützt die Bemühungen der Polizei diverser zu werden.
"Ich glaube, der Erfolg, den man damit haben kann in der Nachwuchswerbung, ist, dass auch so Vorbehalte gegenüber der Polizei abgebaut werden", sagt er. "Ich glaube, das gibt es in der ein oder anderen Community dann doch, dass es Vorbehalte gibt oder Sorgen, Ängste vor allem auch in den Familien. 'Was passiert da mit meinem Kind bei der Polizei', sozusagen. Und da ist es, glaube ich, wichtig, dass die Menschen mit den Kollegen ins Gespräch kommen. Und das machen wir in Berufsmessen oder in Schulen, wo wir dann gezielt Kollegen mit Migrationshintergrund auch einsetzen, damit die Zielgruppe entsprechend besser angesprochen werden kann."
Die Strategie geht auf! Tayfur U. und Savas Gel sind heute längst keine Exoten mehr bei der deutschen Polizei.

Aufgewachsen in einer bunten Großfamilie

Thilo Cablitz – als Sohn eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter in einer bunten Großfamilie in Berlin aufgewachsen – ist heute Sprecher der Hauptstadtpolizei. Gerade ist er unterwegs zum Brandenburger Tor, wo sich Gegner der Corona-Politik versammelt haben. Es ist ein sonniger Freitagnachmittag. Vor dem Fenster des Polizeiautos schiebt sich das typisch vielfältige Publikum von Berlin-Mitte über die Bürgersteige. Eine Touristengruppe aus Asien, Krawattenträger mit Coffee-to-go-Bechern neben einer obdachlosen Frau an der Ampel, ein paar grölende Jugendliche mit schwarzen Gelfrisuren und riesigen Sonnenbrillen vor dem Starbucks Café.
"Auf der Straße im Funkwagen-Ersatzdienst war das schon manchmal ein Eisbrecher, dass man mit einer anderen Hautfarbe aufgetreten ist", sagt Thilo Cablitz. "Ich könnte gut als arabisch oder auch türkisch durchgehen. Das hilft mir tatsächlich oder hat in vielen Situationen geholfen, dass man erst mal ein bisschen entspannter war, als man mich gesehen hat."
Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz steht auf dem Pariser Platz in Berlin.
"Die Uniform macht gleich", sagt Thilo Cablitz.© Deutschlandradio/ Luise Sammann
Er hatte, wie viele andere Schwarze Menschen in Deutschland, lange vor allem das Gegenteil erlebt. In der Grundschule, wo er noch "Schokoladenjunge" genannt wurde, beschloss seine Mutter nicht ohne Grund, dem Sohn lieber doch einen deutsch klingenden Vor- und Nachnamen zu geben. Zum Schutz vor Diskriminierung. Was der Name nicht immer schaffte, bewirkte Jahre später die Polizeiuniform.
"Ja. Die Uniform macht gleich, sie macht einen uniform", sagt Thilo Cablitz. "Von daher passiert es tatsächlich auch schon das eine oder andere Mal, dass man mich als 'Scheißdeutscher' beschimpft oder beschimpft hat, oder dann halt auch im schlimmsten Fall bis zu einem Nazi. Weil man einfach mit den Maßnahmen, die ich getroffen hatte, nicht zufrieden war oder nicht einverstanden war, weil man sich nicht anders zu helfen wusste, als diese Pauschalkeule herauszuholen."

Kuriose Wirkung der Uniform

Als bizarr bezeichnet Cablitz diese Momente. Vor allem aber sagen sie viel aus über die Gesellschaft, in der er lebt und die ihn, je nach Gusto, mal als Nazi, mal als verdächtigen Ausländer einstuft.
"Ja, es ist definitiv so, wenn ich jetzt die Straße entlanglaufe, in Uniform, von mir aus abends, dunkle Seitenstraße - zeichnen wir mal dieses Szenario -, und mir kommt jemand entgegen, dann sehen die die Uniform und bleiben auf derselben Straßenseite. Wenn ich das in Zivil mache, dann sieht das wieder anders aus. Ich finde es immer problematisch, zu sagen, es muss meine Hautfarbe gewesen sein. Nein, das muss es nicht gewesen sein. Es gibt unterschiedliche Aspekte, vielleicht wird auch einfach nur so die Straßenseite gewechselt, weil man woanders hinwollte. Aber aufgrund der Erfahrungen, die man im Alltag gemacht hat, berührt das einen schon, und man hinterfragt sich."
Unter anderem Erfahrungen wie diese sind es, die Cablitz einst zur Polizei brachten. Ein Idealist, der die Welt ein Stück besser machen wollte, so beschreibt er sich selbst. Einer mit stark ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, der andere vor dem beschützen will, was ihm selbst teilweise widerfuhr.
Bei den Kollegen von der Polizei habe er sich dann von Anfang an geborgen gefühlt. Akzeptiert, so wie er war. Umso härter traf ihn die Diskussion der vergangenen Monate. Im Juni 2020 meldete sich Cablitz unter dem Titel "Mein Leben passt in keine Schublade" im Nachrichtenmagazin "Spiegel" zu Wort.
"Natürlich hat die Diskussion der letzten Wochen und Monate auch mit mir was gemacht", sagt er. "Ich habe eine andere Hautfarbe und trotzdem sehe ich mich in Teilen diesem Pauschalurteil ausgesetzt: Wir seien Rassisten, wir würden unrechtmäßig Gewalt gegen bestimmte Ethnien anwenden."
Thilo Cablitz schüttelt energisch mit dem Kopf. Insgesamt, so sagt er, habe er keinen Zweifel an seinen Kollegen.
"Das vertrete ich mit jeder Faser: Dass ganz, ganz überwiegend alle Kolleginnen und Kollegen …, also das ganz überwiegende Gros rechtmäßig handelt und wirklich mit beiden Füßen fest auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung steht. Also kein Kollege oder keine Kollegin, die ich kenne, würde das in irgendeiner Form begrüßen, dass wir wirklich massive Rassisten in unseren Reihen haben. Nein, definitiv nicht."

Debatte um Rassismus und Racial Profiling

Also alles gut? Lag SPD-Politikerin Saskia Esken mit ihrem Vorwurf des latenten Rassismus bei der deutschen Polizei doch falsch?
Die Demonstrationen, die auf die Antirassismus-Proteste in den USA auch in zahlreichen deutschen Städten folgten und sich immer wieder auch gegen die hiesige Polizei richteten, erzählen eine andere Geschichte. In immer mehr Büchern, in Interviews und in den sozialen Medien teilen vor allem nicht weiße Deutsche Erfahrungen mit rassistischem Verhalten durch Beamte.
Unter dem Twitter-Hashtag "Polizeigewalt" und anderswo wird auf Fälle verwiesen, bei denen People of Colour unter teilweise nie aufgeklärten Umständen in deutschem Polizeigewahrsam oder bei Einsätzen ums Leben kamen. Rooble Warsame in einer Zelle in Schweinfurt, Amad Ahmad in Kleve, Matiullah Jabarkhil in Fulda, Oury Jalloh in Dessau.
Und auch, wenn es nicht immer tödlich endet: Nichtweiße Bürger würden in Deutschland öfter verdächtigt, häufiger kontrolliert und in Gewahrsam genommen, so der immer wiederkehrende Vorwurf. Auch Polizeisprecher Thilo Cablitz aus Berlin kennt ihn gut. Aus eigener Erfahrung.
"Ja, ich habe auch in der Polizei unschöne Erfahrungen gemacht", erzählt er. "In einem anderen Bundesland ist man mir letzten Endes gefolgt, hat mir hinterhergeschaut. Und ein Kollege, der mit mir in Zivil unterwegs war, aber der der Majorität, wenn man so möchte, angehört, der war wirklich verwundert, ja, fast schon geschockt, dass es so offensichtlich und so intensiv war. Ich will es gar nicht relativieren, weil alles davon schmerzt. Alles davon tut weh. Aber wenn man sich anguckt, wie viele Fälle es tatsächlich waren und wie häufig ich Menschen begegne oder begegnet bin auch in dieser Behörde, dann ist das verschwindend gering."
Und dennoch konstatierte auch ein Europaratsbericht im März 2020 – also noch vor dem Mord an George Floyd in den USA und den darauffolgenden Protesten auch hierzulande – "starke Indizien für das Vorhandensein von ausgeprägtem Racial Profiling" in der Arbeit der deutschen Polizei.

Innenminister Seehofer sieht keinen Handlungsbedarf

Die betroffene Behörde selbst allerdings gab und gibt sich wenig selbstkritisch. Statt der eigentlich geplanten, dann aber doch abgesagten Studie zum Racial Profiling verkündete Innenminister Horst Seehofer inzwischen, es bräuchte nach seiner Überzeugung eher eine Studie über Gewalt gegen Polizeibeamte. Racial Profiling sei bei der Polizei verboten und müsse deswegen auch nicht untersucht werden.
"Ich bin in meinem ganzen politischen Leben ein entschiedener Gegner von Rassismus, von Antisemitismus und Extremismus. Ich glaube, in meiner Zeit ist dagegen mehr geschehen als in all den Jahren vorher. Und deshalb sollten wir das jetzt mit aller Gelassenheit diskutieren. Ich kann sagen, ich erkenne weder im öffentlichen Dienst noch bei der Bundespolizei diesbezüglich ein strukturelles Problem."
Nicht zuletzt die steigende Zahl von Polizeianwärtern und Beamten mit Migrationshintergrund wird immer wieder von denen angeführt, die eine Diskussion über Rassismus in der Behörde für überflüssig halten. Kann eine Organisation mit einer inzwischen derart vielfältigen Belegschaft denn rassistisch sein, so fragen sie?

Diverse Belegschaft kein Garant gegen Rassismus

Professorin Daniela Klimke aus Niedersachsen warnt vor solch einfachen Schlussfolgerungen: "Polizisten mit Migrationshintergrund sind wirklich kein Garant gegen Rassismus. Einfach weil die Polizei die Fähigkeit besitzt, diese Kollegen mit Migrationshintergrund genauso in ihre Reihen aufzunehmen, wie sie die Polizei oder Polizisten ohne Migrationshintergrund aufnimmt."
Klimke verweist auf das Beispiel der Einheitslaufbahn, die jeder Polizist durchläuft und die dafür sorgt, dass alle Polizisten unabhängig von Talenten, Geschlecht oder eben Herkunft die gleichen Inhalte lernen. Ein System, das vielen Anwärtern das Gefühl gibt, endlich gleich zu sein, und damit durchaus integrierende Wirkung hat. Zugleich aber ist es Teil des Problems.
"Das heißt, in Teilen werden Polizisten mit Migrationshintergrund auch in Scherze eingebunden, die eigentlich gegen ihre migrantische Herkunft gerichtet sind", erklärt sie. "Weil die Kollegen gar nicht mehr dieses Merkmal Ethnizität aufnehmen, also wahrnehmen. Da gibt es einfach keinen Unterschied mehr, wenn sie in dem Polizeidienst drin sind. Und insofern werden sie auch nicht den Rassismus verhindern können."
Als homogenisierende Wirkung bezeichnet die Professorin diese spezifische Eigenheit der Polizei. Diversität bedeute im polizeilichen Zusammenhang damit etwas grundsätzlich anderes als im Rest der Gesellschaft.
"Das ist wirklich die Problematik, die die Polizei systematisch unterscheidet von Wirtschaftsunternehmen zum Beispiel", erklärt Daniela Klimke. "Wirtschaftsunternehmen, die Diversität in den eigenen Reihen fördern und auch haben wollen, die setzen natürlich auf das Innovationspotenzial. Das ist ja mehrfach für verschiedene Handlungsbereiche belegt, dass Teams, die eine möglichst hohe Diversität aufweisen, insbesondere mit Blick auf Geschlecht, aber auch mit Blick auf Ethnizität, dass die zu innovativen Lösungen kommen. Das ist für wirtschaftliche Unternehmen natürlich sehr positiv."

Anpassung, Zusammenhalt und Korpsgeist

Die Polizei aber funktioniert anders, so die Soziologin: "Sie will nicht Vielfalt im Sinne innovativer, individueller Lösungen, sondern sie beruht natürlich auf einem hohen Maß an Homogenität, auf einem hohen Maß an Anpassung an Regeln, die von allen Polizisten gleichermaßen eingehalten werden müssen."
Der berühmte und viel diskutierte Korpsgeist gilt als eine häufige und für Beobachterinnen wie Daniela Klimke übrigens durchaus auch positiv zu bewertende Folge dieser polizeispezifischen Kultur. Eine auf Vertrauen und unbedingtem Zusammenhalt basierende Kameradschaft, die sich gerade in Gefahrensituationen bewährt und jeden gleichmacht, der einmal dazugehört.
Platz für Diversität bleibt dann allerdings kaum noch, meint auch Savas Gel von der Polizeidirektion Hannover.
"Also die Polizei hat einen klaren Auftrag zu erfüllen, der gesetzlich normiert ist", sagt er. "Wir haben den Auftrag, Straftaten zu verfolgen und aufzuklären, Gefahren abzuwehren und Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen. Und wenn man jetzt Diversität danebenlegt als Thema, dann bedeutet ja Diversität, sämtliche Perspektiven in einer Gruppe abzurufen, einzubinden, oder entsprechend zu bewegen. Und das können wir in bestimmten Einsatzlagen, in bestimmten Einsatzsituationen eben nicht. Aber wir haben dennoch Möglichkeiten, wie zum Beispiel hier bei mir in meinem Bereich, der sich mit Grundsatz- und Stabsarbeit beschäftigt: Da haben wir durchaus Möglichkeiten, über die Dinge tiefer zu diskutieren, intensiver zu diskutieren und die Perspektiven auszutauschen."
Ob solche strategischen Diskussionen dann aber auch Eingang in die tägliche Polizeiarbeit finden, ist eine andere Frage, der der Sohn türkischer Einwanderer in seiner Masterarbeit mit dem Titel "Kulturelles Diversitätspotenzial der niedersächsischen Polizei" nachgegangen ist.
Gel betont darin den Unterschied zwischen den unterschiedlichen Kulturebenen innerhalb der Polizei: "Zum einen die operative Kultur – also ich sag mal sozusagen das, was auf der Straße passiert, was die Kollegen im Einsatz- und Streifendienst beispielsweise leisten. Und dann einmal diese Polizeikultur, also eher diese Managementebene, die sich mit Leitbildern und Strategien beschäftigen. Und diese beiden Kulturebenen, da ist es wirklich die Herausforderung, dass wir diese Kulturebenen überbrücken und dass wir zueinanderfinden und verständlich machen, warum bestimmte strategische Ansätze in der Polizei wichtig sind und warum wir auch möchten, dass das umgesetzt wird."

Spannungsverhältnis zwischen Uniformität und Vielfalt

Eine Herausforderung, der sich die Polizei auch in Zukunft immer wieder stellen muss. Denn das Spannungsverhältnis zwischen Uniformität und Vielfalt in der Organisation wird sich wohl nie vollständig auflösen lassen. Wohl aber lässt es sich reflektieren und ständig neu austarieren.
Damit das auf allen Ebenen geschieht, sind die steigenden Zahlen von Polizeianwärtern mit Migrationshintergrund durchaus von Bedeutung. Denn auch, wenn sie kein Garant gegen Rassismus sind, wenn ihr Diversitätspotenzial erkannt und voll ausgeschöpft wird, können Beamte mit bosnischer, türkischer oder auch sudanesischer Zuwanderungsgeschichte die Polizei und damit auch die Gesellschaft insgesamt sehr wohl nachhaltig beeinflussen, so die Überzeugung von Soziologin Daniela Klimke.
"Die Integration von ethnischen Minderheiten hat ja auch eine symbolische Wirkung", sagt sie. "Das heißt, es wird sichtbar: Selbst in die zentrale Institution der inneren Sicherheit rücken Menschen mit Migrationshintergrund auf. Und soweit wir immer noch Kriminalität sehr stark ethnisieren - also sobald Migranten sichtbar werden im öffentlichen Raum, werden sie tendenziell als Sicherheitsrisiko wahrgenommen, zum Teil leider auch von der Polizei, aber eben auch von der Bevölkerung - dann kann dieses Bild sozusagen aufgebrochen werden, wenn eben auch sichtbar ethnische Minderheiten in den polizeilichen Reihen repräsentiert sind."

Autorin und Sprecherin: Luise Sammann
Regie: Frank Merfort
Technik: Andreas Stoffels
Redaktion: Carsten Burtke

Redaktioneller Hinweis: Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt.
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