Diskurs um Flucht und Asyl in den 1990er-Jahren

Hetze gegen "Scheinasylanten" und "Asylmissbrauch"

Ein Asylbewerber schaut am 23.9.1991 aus einem eingeschlagenen Fenster des Asylbewerberheims im sächsischen Hoyerswerda
Ein Asylbewerber schaut am 23.9.1991 aus einem eingeschlagenen Fenster des Asylbewerberheims im sächsischen Hoyerswerda. © dpa
Von Azadê Peşmen  · 06.12.2017
Rassisten stecken Flüchtlingsunterkünfte in Brand, Medien schreiben gegen eine vermeintliche "Asylantenflucht" an und Politiker verharmlosen rassistische Ausfälle als berechtigten Unmut: Zu Beginn der 1990er-Jahre tobt in Deutschland ein Kampf um die Verschärfung des Asylrechts.
Anwohner in Hoyerswerda: "Denen wurde Geld zugesteckt, die brauchten nicht arbeiten, nichts und wir im Prinzip als Deutsche, waren hier die zweite Garnitur, die wir ja sowieso sind."
Nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda: Ein Anwohner fasst das zusammen, was den politischen Diskurs um die Asylpolitik Anfang der 1990er-Jahre ausmachte: Der Begriff "Asylmissbrauch" war im Wahlkampf der 90er-Jahre zentral. Die Erzählung lautete: Asylsuchende fliehen, um in Deutschland von Sozialleistungen zu leben. Der Nährboden für die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Asylsuchende und Ausländer, die in Hoyerswerda ihren Anfang nahmen.
Historiker Ulrich Herbert: "Die Diskussion um die Abschaffung des Asylartikels oder die Veränderung des Asylartikels im Grundgesetz ist in den frühen 90er-Jahren mit außerordentlicher Schärfe geführt worden und war diejenige, dass auf die Asylbewerber, als Asylschwindler etc. geschimpft wurde."

Union will das Asylrecht einschränken

Die CDU und CSU, so urteilt der Historiker Ulrich Herbert, initiierten eine regelrechte Anti-Asyl-Kampagne: Die Union forderte eine starke Einschränkung des Grundrechts auf Asyl und forderte mit diesem Thema die SPD heraus, die ebenfalls im Sommer 1990 zu Zeiten des Wahlkampfes um Wählerstimmen buhlte. Befeuert wurde dieser Diskurs von der "BILD"-Zeitung. Die titelte etwa:
"Die Flut steigt - wann sinkt das Boot?"
"Fast jede Minute ein neuer Asylant".
"Asylanten jetzt auf Schulhöfe - Neue Welle! Und bis Weihnachten kommen noch 40.000."
"Wohnraum beschlagnahmt. Familie muss Asylanten aufnehmen."
Ein Mann steht am 27.08.1992 vor brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen. Vom 22. bis 28. August 1992 randalierten bis zu 1.200 meist jugendliche rechtsradikale Gewalttäter vor dem Zentralen Asylbewerberheim Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen. Unter dem Beifall von bis zu 3000 Schaulustigen und vielen Fernsehkameras bewarfen die Rowdies das überwiegend mit Rumänen belegte Hochhaus (Sonnenblumenhaus) sowie die Polizisten mit Steinen und Brandsätzen. Foto: Bernd Wüstneck | Verwendung weltweit
Ausländerfeindliche Krawalle in Rostock-Lichtenhagen 1992© dpa-Zentralbild
Auch die Welt am Sonntag unterstützte die These, dass es sich bei Asylsuchenden vor allem um "Schwindler und "Betrüger" handele. SPD und FDP wollten, so hieß es in der Welt:
"… das in diesen Punkten überholte Grundgesetz zum Fetisch stempeln. Bei mehr als 90 Prozent Schwindlern kann sich das zur existenziellen Bedrohung unseres Sozialwesens auswachsen."
Tatsächlich wurden weniger als zehn Prozent der gestellten Asylanträge mit einem positiven Bescheid bearbeitet. Die Zahl der Geflüchteten stieg an, weil viele von ihnen in ihrer Heimat politische Verfolgung fürchteten und deshalb nicht abgeschoben werden konnten. Rhetorisch wurden Asylanten als Bedrohung und Last konstruiert, Wörter wie "Asylantenzustrom", "Asylantenflut" und "Asylantenandrang" inszenierten Menschen und Gruppen von Menschen zu Naturgewalten, die über die Bundesrepublik Deutschland hereinbrechen.

Aufgeheiztes Klima

Dieses gesellschaftspolitische Klima nutzte CDU-Politiker Volker Rühe im September 1991. In einem Rundschreiben fordert er seine Partei auf, die "besorgniserregende Entwicklung von Asylbewerberzahlen" in allen Stadträten, Kreistagen und Länderparlamenten zum Thema zu machen:
"In Städten und Gemeinden artikuliert sich in der Bevölkerung am ehesten der Unmut und mangelnde Akzeptanz des praktizierten Asylrechts."
Dazu lieferte er Argumentationsleitfäden, Musterentwürfe für Presseerklärungen, für Musteranfragen:
"Sind Asylbewerber in Hotels oder Pensionen untergebracht worden? In welchem Zeitraum? Zu welchen Kosten?"
Wenn sich die SPD weiter gegen die Grundrechtsänderung sperre, tönt Rühe, sei jetzt jeder Asylant ein "SPD-Asylant". Es hat nicht lange gedauert, bis die SPD diesem Druck nachgab. Hans-Ulrich Klose, Fraktionsvorsitzender der SPD:
"Meine Damen und Herren, von den finanziellen Belastungen, die mit diesem Zustrom verbunden sind, will ich nicht reden. Von den Folgen aber muss geredet werden, die das alles für die eigene Bevölkerung hat, wer zum Beispiel in Hamburg in einem Stadtteil mit hohem Asylbewerberanteil lebt, der spürt die Auswirkungen sehr direkt und sehr konkret. Nicht weil dort die Menschen ausländerfeindlich wären, sondern weil sie ihre Lebensverhältnisse in oft bedrückender Weise verschlechtern, weil sie sich bedroht fühlen, tatsächlich und sozial."

Pogrome in mehreren Städten

Bedroht waren in erster Linie auch die Asylsuchenden und Ausländer, es kommt zu Ausschreitungen und Pogromen in Rostock, Mölln und Solingen:
Tagesschau: "Der Triumph der braven Bürger. Eine Woche lang hatten sie zugeschaut, als die Rechtsradikalen randalierten. Dann waren die 70.000 Deutschen von Hoyerswerda ihre 300 Ausländer los. Die Polizei, das Land Sachsen, die Bundesregierung, sie kapitulierten vor dem Terror der Straße."
Die rassistische Gewaltwelle - nicht selten wurden dafür die Opfer, die Asylbewerber, oder das Asylrecht verantwortlich gemacht. So wie etwa der damalige Berliner Innensenator Dieter Heckelmann nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen:
"Was sich in den Zustimmungsbekundungen zeigt, ist nicht Rechtsradikalismus, Ausländerfeindlichkeit oder gar Rassismus, sondern der vollauf berechtigte Unmut über den Massenmissbrauch des Asylrechts."
Sowohl in der Presse, als auch in der Politik wird Verständnis für die Gewalt gegen Asylsuchenden gezeigt. Von "Asylkritikern" ist die Rede, die mit ihrer eigenen Lebenssituation unzufrieden seien. Dass die Wut gewalttätige Formen annimmt und dabei nicht nur Asylsuchende sterben, bleibt außen vor. Die Reihe der Anschläge und Angriffe geht weiter.

Mehrere Tote in Solingen

"Mevlüde Genç verlor am 29. Mai 1993 zwei ihrer Töchter, ihre Nichte und zwei Enkelinnen. Es war die Nacht zum Pfingstsamstag, als in der Unteren Wernerstraße die Flammen zum Himmel schlugen. In das ausschließlich von Türken bewohnte Haus hatten vier junge Männer kurz zuvor Brandbeschleuniger geworfen."

Auch nach diesen Vorfällen wird von Seiten der Politik und der Presse nicht der Rassismus innerhalb der Bevölkerung kritisiert. Der deutsche Bundestag beschließt am 26. Mai 1993 die Einschränkung des Asylrechts. Die Anti-Asyl Kampagne war somit erfolgreich. Kritisiert wurde die Art und Weise, wie diese Debatte geführt wurde, lediglich von der Opposition. Gregor Gysi von der PDS:
Die Fahnen der Bundesrepublik Deutschland, der Türkei, Solingens und Nordrhein-Westfalens hängen zur Trauerfeier vor dem ausgebrannten Haus der türkischen Familie Genc in Solingen.
Das ausgebrannte Haus der Familie Genc in Solingen© imago / Tillmann Pressephotos
"Und Sprache ist verräterisch. Es waren Politikerinnen und Politiker, die Begriffe von Scheinasylanten, von Flüchtlingsströmen, von Wirtschaftsflüchtlingen, vom Asylmissbrauch, von asylfreien Zonen, von Durchmischung und Durchrassung und das schlimme Wort vom Staatsnotstand in die Debatte brachten und solche Worte zeigen Wirkung. All jene, die in der beschriebenen Art und Weise die Asyl-Debatte führten und führen, haben an rassistischen und ausländerfeindlichen Pogromen als intellektuelle Urheber ihren Anteil."
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