Diskriminierung und Verfolgung vor 1938

Umgeben von Antisemiten

SA-Männer
SA-Männer kleben vor dem Novemberpogrom 1938 ein volksverhetzendes Plakat an ein Geschäft, das in jüdischem Besitz ist. © picture alliance / dpa
Von Otto Langels · 06.11.2015
Wie die Nürnberger Gesetze 1935 waren auch die Pogrome vom 9. November 1938 entscheidende Schritte auf dem Weg zur Ausgrenzung der Juden. Aber bereits davor gab es zahllose Fälle von Diskriminierung und antisemitischer Gewalt in Deutschland.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts gab es an Nord- und Ostsee eine Reihe von Seebädern, die sich mit ihrem antisemitischen Image brüsteten und in Prospekten verkündeten, Juden bzw. israelitische oder mosaische Gäste seien nicht willkommen.
Der Historiker Frank Bajohr, Leiter des Münchner Zentrums für Holocaust-Studien, hat für 1914 immerhin 83 judenfeindliche Hotels und Pensionen an der See gezählt, für 1924 198 und für das Jahr 1931 bereits 360. Die Häuser warben dabei mit zynischen Slogans wie: für Juden und Lungenkranke Eintritt verboten.
"Kurorte versandten Prospekte mit dem Vermerk. Für jüdische Empfänger ungültig, Israeliten ausgeschlossen oder Israeliten suchen den Kurort in der Regel nicht auf. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens stellte bereits im Jahre 1905 resigniert fest, ich zitiere: Wir haben uns längst mit der beschämenden Tatsache abgefunden, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Lande der Dichter und Denker eine stattliche Reihe von Bade- und Kurorten gibt, die den Grundsatz öffentlich verkünden, dass ihnen jüdischer Besuch nicht willkommen ist."
Formalrechtlich war ein Judenverbot vor 1933 nicht durchzusetzen, aber welche jüdische Familie wollte schon ihren Urlaub im Kreis von Antisemiten verbringen und sich der Gefahr aussetzen, beim Frühstück oder am Strand angepöbelt zu werden. So waren viele Kurorte und Sommerfrischen bereits lange vor der NS-Machtübernahme Zonen gesellschaftlicher Apartheid. Auf der Insel Borkum war z.B. das folgende Lied populär:
"Und wer da naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muss hinaus, der muss hinaus."
Ende 1933 druckte das Nordseebad Norderney Tausende von Briefaufklebern mit dem Aufdruck: judenfrei.
Um judenfreies Image bemüht
Doch nicht nur an der See, auch in den Bergen bemühten sich Kur- und Tourismusorte um ein judenfreies Image. Der deutsch-österreichische Alpenverein entfernte jüdische Mitglieder aus seinen Reihen und betrieb eine, wie er es nannte, Arisierung der Alpen. Im bayrischen Bad Kissingen erhielten Juden gelbe Kurkarten mit genau festgelegten Besuchszeiten, Kurhaus und –theater durften sie nicht betreten.
"Erst nach dem Novemberpogrom 1938, am 28. November 1938, erließ Reinhard Heydrich eine Polizeiverordnung ´über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit`, die solche Betretungsverbote reichsweit ermöglichten. Die Bade- und Erholungsorte des Deutschen Reiches nahmen somit in der Verdrängung der deutschen Juden aus dem öffentlichen Raum eine wichtige Schrittmacherfunktion ein."
Juden mussten aber nicht nur Verordnungen und Verbote über sich ergehen lassen, bereits lange vor dem November 1938 wurden sie Opfer pogromartiger Ausschreitungen. Der Historiker Christoph Kreutzmüller vom Berliner Haus der Wannsee-Konferenz spricht von einer regelrechten Gewaltwelle im Sommer 1935 im gesamten Deutschen Reich.
"Diese Welle diente den Nationalsozialisten dazu, antisemitische Praxis voranzutreiben, wurde aber auch benutzt, um missliebige Mitbewerber um bestimmte Posten abzusetzen."
Zentrum der antisemitischen Übergriffe war Berlin. Dort attackierten junge Nazis auf der Straße Passanten, die sie wegen ihres Aussehens für Juden hielten.
"Wilde Mob-Verfolgungssituationen gerade auf dem Kurfürstendamm, so ein symbolischer Ort, der für Moderne steht, wo Menschen, die vorher den Stürmer noch verkauft haben, sich zusammenrotten, durch die Straße ziehen und andere Leute anhalten, von denen die denken, dass könnten vielleicht Juden sein, die dann schlagen, in einem Fall sogar erschlagen."
Außerdem nahmen die pöbelnden Nazis Caféhäuser und Eisdielen ins Visier, von denen sie annahmen, sie seien in jüdischem Besitz. Den Eigentümern wollten die Randalierer das Sommergeschäft verderben.
"Sie stehen wochenlang vor einer Eisdiele und hauen allen Leuten das Eis aus der Hand, wenn die da rauskommen. So was muss man sich vorstellen. Und wenn dann ein Gast wiederkommt, dann wird der Gast geschlagen. Und wenn der Eismann rauskommt, dann wird der Eismann zusammengeschlagen; sowas an vielen Orten in Berlin immer wieder."
Die Ausschreitungen waren nicht angeordnet, wohl aber von NS-Funktionären angeregt und befördert worden, sie waren gewollt spontan. Die Täter kamen ungeschoren davon. In Form und Ablauf, so Christoph Kreutzmüller, erinnere die Gewaltwelle vom Sommer 1935 an den 9. November 1938.
"Vieles, was dort passiert ist, erinnert daran tatsächlich, auch dass Menschen erschlagen werden in Berlin auf offener Straße. Das ist ja etwas, was dann sich wiederholen sollte."
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