Diskriminierung und gefühlte Benachteiligung

Ich bin weiß und männlich und kann nichts dafür!

04:28 Minuten
Eine Illustration zeigt einen Mann und eine transsexuelle Frau in der Rückansicht, die an Urinalen in einer öffentlichen Toilette stehen.
Seit kurzem komme es nicht mehr auf Text und Kontext an, sondern auf die Sprech-Berechtigung dessen, der spricht, meint Christian Schüle. © imago / fStopImages / Malte Mueller
Ein Kommentar von Christian Schüle · 18.08.2020
Audio herunterladen
Wer darf über was sprechen? Gerade in Diskriminierungsfragen wird diese Frage heißt diskutiert. Der Philosoph Christian Schüle sieht sich als weißer, heterosexuell orientierter Mann in einem verstörenden Kulturkampf um Deutung und kulturelle Hegemonie.
Kürzlich durfte ich lernen, dass ich Rassist bin. Ich wusste es gar nicht, weil mir im Traum nicht einfiele, mich anderen Ethnien gegenüber abwertend zu verhalten. Nein, ich bin Rassist, weil ich ich bin: ein mittelalter weißer Mann mittelschichtiger, biodeutscher, gar schwäbischer Herkunft mit heterosexueller Orientierung.
Offenbar kann ich gar nicht kein Rassist sein, da ich in den privilegierten Strukturen der Bundesrepublik groß geworden bin, die aktivistische Antirassisten als rassistisch und Gendertheorien vertretende Subjekte als hetero-normativ repressiv bezeichnen.

Schlechte Karten als weißer Mann?

Nun ja, kurzgesagt: Ich habe dieser verrückten Tage denkbar schlechte Karten, als moralisch korrektes Individuum durchzugehen, obwohl ich in der Gleichwertigkeit aller Menschen das höchste Gut erkenne.
Aber darf ich hier überhaupt über Gesellschaft sprechen? Damit geht es schon los. Als mittelalter weißer Mann trage ich bekanntlich die Erbschuld des Kolonialismus der Vorvorväter und der toxischen Männlichkeit an sich in mir, die nach Ansicht von Politikwissenschaftlerinnen für Terror, Krieg, Gewalt und Unterdrückung verantwortlich sein soll.
Was kann ich tun? Mich demütig und dauernd entschuldigen? Mich schämen für mich und mein Geschlecht? Die Klappe halten oder Aktivist werden?

Subjektiv konstruierte Identitäten

Seit kurzem findet ein verstörender Kulturkampf um Deutung, kulturelle Hegemonie, psychische Hypersensibilität und politische Repräsentation statt. Wichtiger als Inhalt und Aussage sind Herkunft und Haltung des Sprechenden. Es kommt nicht mehr auf Text und Kontext an, sondern auf die Sprech-Berechtigung dessen, der spricht.
Statt mit wissenschaftlicher oder intellektueller Erkenntnisarbeit Verstehen und Verständnis zu produzieren, geht es um das Bestreben, subjektiv konstruierte Identitäten auch radikal subjektiv auszudrücken und sichtbar zu machen.
Um es, bei allem Respekt, zuzuspitzen: Werden in Kürze die intersexuelle Veganistin transkaukasischer Abstammung oder das kontrasexuelle Subjekt mit animistischer Spiritualität, die/der/das sich von der Mehrheit unterdrückt fühlt, die Agenda der öffentlichen Rede bestimmen, weil ihre potenziellen Kränkungen nur sie zur Rede legitimiert?

Versagen linker Antworten

Dass jetzt überall klare Zeichen gefühlter Benachteiligung erkannt werden, ist Resultat eines quasireligiösen Befreiungsmoralismus, den man "Identitätspolitik" nennt. Es ist das Kernthema neuer linker Ideologie, da die alte Linke versagt hat und weder einen attraktiven ökonomischen Gegenentwurf zum Kapitalismus anbieten, noch den Rechtsnationalismus aufhalten konnte, dem europaweit beträchtliche Teile der arbeitenden Klasse in die Arme laufen.
In der vor allem von jungen Aktivistinnen und Aktivisten betriebenen Identitätsdogmatik stecken erstaunliche Denkfehler.
Erstens. Obwohl Herkunft oder Identität ja eben kein Kriterium zur Wertung mehr sein sollen, werden sie im Kampf um Sichtbarkeit gerade explizit zur zentralen Kategorie erhoben.
Zweitens: Diversität setzt Differenz voraus, die durch falsch verstandene Gleichmacherei aber ja gleich wieder aufgehoben wird. Mit der feststellenden Beschreibung von Merkmalen des Diversen ist ja keineswegs automatisch dessen Abwertung verbunden.
Drittens: Gerade indem man einen Menschen zum Opfer erklärt, stellt man ihn auch als Opfer aus. So entsteht eine Opferkonkurrenz um Aufmerksamkeit.

Neue, antiaufklärerische Ära

In einem Klima hypermoralischer Erhitzung, ist Identitätspolitik das Geschäftsmodell selbsterklärter Aktivisten und Aktivistinnen, die die Komplexität der Sachverhalte gern auf eine moralische Monade reduzieren. Wir rutschen immer stärker in eine antiaufklärerische, fundamentalistische, intolerante Ära hinein.
Und ich - mittelalter weißer hetero-normativer Mann - schäme mich kein bisschen, darüber gesprochen zu haben.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman "Das Ende unserer Tage" und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" sowie "In der Kampfzone".

© picture alliance/dpa
Mehr zum Thema