Dieter Thomä: "Puer robustus"

Geschichte der Quertreiber

Wilhelm Tell schießt in Interlaken während der Premierenvorstellung der Tell-Freilichtspiele 2003 den berühmten Apfelschuss.
Wilhelm Tell ist eine Art positiver Störenfried. © picture alliance / dpa / keystone
Von Michael Opitz · 13.10.2016
Für Thomas Hobbes war der Störenfried ein störrisches Kind, ein in Unvernunft verharrender Erwachsener. Bei Schiller hingegen wurde er - siehe Wilhelm Tell - zum Helden. Dieter Thomäs Abhandlung über die Geschichte des Störenfrieds liest sich wie ein Abenteuerroman.
Zum ersten Mal taucht der puer robustus, der kräftige Knabe, 1647 in Thomas Hobbes Schrift "Vom Bürger" auf. Hobbes vergleicht den puer robustus mit einem bösen Mann. Es sei nichts anderes als kindisch, so Hobbes, wenn man sich als erwachsener Mann gegen den Staat stellt, da das Gemeinwesen nur funktionieren kann, wenn man sich als Teil des Staates begreift.
Der Störenfried aber stört nach Hobbes den Frieden, da das immer stärker gewordene Kind vergessen hat, seine Vernunft anzuwenden. Hätte der im Kind steckende Mann gelernt, sie zu gebrauchen, wäre ihm bewusst geworden, dass es zur Sicherung des Friedens keine Alternative gibt, als seine Eigeninteressen unter die der Gemeinschaft zu stellen.
Dieter Thomä geht in seinem Buch über den Störenfried der Frage nach, ob der puer robustus tatsächlich einer ist, der stört, der sich weder ein- noch unterordnet, der sich uneinsichtig und unvernünftig zeigt, und der deshalb nicht mehr als ein Unhold ist.

Schrecken jeder Ordnung, notwendiges Regulativ

Oder sind die Störenfriede die eigentlichen Helden der Geschichte, die, wie Schillers Wilhelm Tell, geradezu für Unruhe sorgen müssen, weil sie das Gemeinwesen in Gefahr sehen. Ist also der puer robustus der Schrecken einer jeden Ordnung oder ihr notwendiges Regulativ?
Ist Ruhe die erste Bürgerpflicht – ein solcher Bürger schwebte Hobbes vor – oder ist der in seiner natürlichen Freiheit unterdrückte Mensch zum Aufbegehren geradezu verpflichtet – was eher den Vorstellungen von Rousseau entspricht?
Drei verschiedene Typen des Störenfrieds stellt Thomä vor: Er unterscheidet den egozentrischen Störenfried, der allein seinen Eigenwillen zum Maß aller Dinge erklärt, vom exzentrischen Störenfried. Auch der schert sich nicht um Regeln, lebt aber nicht seinen Eigenwillen aus, da er noch auf der Suche nach sich selbst ist.
Schließlich gibt es den nomozentrischen Störenfried, der gegen eine Ordnung kämpft, um an die Stelle der alten Regeln neue zu setzen.

Abenteuerliche Abhandlung

Seine philosophische Abhandlung versteht Dieter Thomä als eine "Abenteuergeschichte", und in der Tat, das Buch liest sich so spannend wie ein Abenteuerroman und ist dennoch philosophisch anspruchsvoll. Thomä gelingt es, angefangen von Hobbes über Rousseau, Diderot, Schiller, Wagner, Marx und Freud – um nur einige zu nennen, auf die in diesem umfangreichen und gut lesbaren Buch Bezug genommen wird – den puer robustus in den Ausprägungen vorzustellen, in denen er bis in unsere Gegenwart immer wieder Gestalt annimmt.
Weltweit haben wir es momentan mit einem vierten Typus zu tun: dem Störenfried, der für seine Störaktionen Schutz in der Religion sucht. In den westlichen Gesellschaften an den Rand der Gesellschaft gedrängt, führen Islamisten, die sich als Opfer sehen, einen Kampf gegen die westlichen Ordnungen.
Den "richtigen" Störenfried gibt es nach Thomäs Ansicht nicht. Das Unzuverlässige und Gefährliche steckt im Volk. Thomä zeigt, dass der Störenfried nicht für sich betrachtet werden kann. Um sich ein Bild von ihm machen zu können, muss nach den Ursachen gefragt werden, die ihn – in welcher Variante auch immer – auf den Plan gerufen haben.

Dieter Thomä: "Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
714 Seiten, 35 Euro

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