"Dieser Platz gehört uns"

Erdogan Altindis im Gespräch mit Christine Watty · 06.06.2013
Er konnte es gar nicht glauben, dass der schöne Istanbuler Gezipark für den Bau einer Shopping Mall geopfert werden sollte, sagt der Architekt Erdogan Altindis. Dass sich die Bevölkerung mit Elan gegen das Bauvorhaben der Regierung wehrt, begeistert ihn.
Christine Watty: Sie scheinen derzeit alle auf der Straße zu sein und die Gelegenheit zu nutzen, angefacht auch durch die dramatischen Reaktionen der türkischen Polizei, sich jetzt zu wehren. Lehrer, Intellektuelle, Künstler, die Mittelschicht, Erdogan-Befürworter auch, sowie natürlich seine Gegner. Das alles, die großen Demonstrationen in der Türkei sind ins Rollen gekommen, weil ein kleiner Park in Istanbul mithilfe einer Shopping-Mall weggeräumt werden sollte, und hat sich ausgebreitet natürlich auch wegen des massiven Einschreitens gegen die Demonstranten.

Was aber den Anlass all dessen betrifft, könnte man – ohne die falschen Vergleiche hinsichtlich der jeweiligen Staatschefs ziehen zu wollen – von einer Art des türkischen Stuttgart 21 sprechen, also ein Bauprojekt, das viele nicht wollen, und ein Protest, der im Anschluss auch gleich noch mit diversen anderen gesellschaftspolitischen Widersprüchen aufräumen will. Was sich in der städtebaulichen Planung, die all die Proteste in der Türkei ausgelöst hat, widerspiegelt, das fragen wir den Architekten Erdogan Altindis in Istanbul. Erst mal schönen guten Morgen!

Erdogan Altindis: Guten Morgen aus Istanbul!

Watty: Wie ist denn die Lage vor Ort, was haben Sie in den letzten 24 Stunden von den Protesten in Istanbul mitbekommen?

Altindis: Es ist ja so, wir wohnen direkt in der Nähe vom Taksim-Platz und laufen praktisch über den Taksim-Platz, Istiklalstraße, eine der großen Flaniermeilen, was ein Sinnbild auch für die Demonstrationen war, zum Galata Platz, zu unserem Arbeitsplatz. Wir können jeden Tag beobachten, wie es angefangen hat und wie es sich entwickelt. Also im Moment ist es so, dass eine noch nie da gewesene Stimmung sich entwickelt hat am Taksim-Platz, es ist wirklich der Wahnsinn, ich habe so etwas noch nie erlebt. Für mich sind die letzten drei, vier Tage die schönsten Momente meines Lebens, seitdem ich hier in Istanbul bin, das ist jetzt schon 17 Jahre, wo ich zwischen München und Istanbul wandere praktisch. Und all diese Menschen zu sehen, die voller Elan sich daran freuen, was sie ins Rollen gebracht haben.

Und mittlerweile kommen auch aus der ganzen Türkei Leute, um sich hier solidarisch zu erklären. Und gestern haben zwei große Gewerkschaften einen Marsch gemacht von verschiedenen Stadtteilen Istanbuls, Sinfonieorchester Borusan stellt sich dort zusammen und gibt ein Konzert. Die ganzen Künstler kommen zusammen, die Leute haben wieder ihre Zelte aufgebaut, um zu demonstrieren, zu sagen, dieser Platz gehört uns und wir werden diesen Platz nicht mehr hergeben. Und für mich als Architekt und jemand, der diese Stadt liebt, der sich in diese Stadt verliebt hat, ist es wirklich ein Fest. Also, ich freue mich jeden Tag, in dieser Stadt zu sein, jetzt von Neuem noch mehr.

Watty: Ein kleiner Park gab den Anstoß für die von Ihnen auch so richtig als mitreißende Poteste beschriebene Situation. Warum konnte der Plan, dort ein Einkaufszentrum hinbauen zu wollen, diese Demonstrationswelle auslösen?

Altindis: Also, man muss ja erst mal sagen, dass es viele solche Projekte in Istanbul gibt und bereits auch realisiert worden sind und realisiert werden sollen und auch im Bau sind. Aber dieser Gezi Park und Taksimplatz ist sehr symbolisch für die türkische Modernität. An diesem Platz gibt es eine der schönsten Architekturen, die die türkische Moderne hervorgebracht hat, das ist das Atatürk-Kulturzentrum, das 1969 als Kulturpalast gebaut worden ist. Und diese kleine Parkanlage mit 60, 70 Jahre alten Platanen, die sind immer wieder zur Diskussion gestanden, ob dort eine Moschee gebaut werden soll, ob dort etwas gebaut werden soll. Und neuerdings waren immer die Gerüchte, es soll dort diese alte Kaserne wieder hergerichtet werden nach dem osmanischen Stil.

Und eigentlich konnten wir diese Dinge gar nicht glauben, bis es dann irgendwann so weit gekommen ist, dass diese Bilder veröffentlicht worden sind, wie der Gezi Park und Taksimplatz aussehen soll. Und ich konnte dann immer noch nicht glauben, als ich in allen Zeitungen diese Nachrichten gelesen habe. Und als dann aber vor acht Monaten sie plötzlich angefangen haben, diesen Platz einzuzäunen und die Bagger reingeschickt haben, das war echter Wahnsinn. Das konnten wir alle nicht glauben. Und es war dann so, dass eben vor zehn Tagen die Leute angefangen haben, die ersten Bäume abzureißen. Und dann ging es halt einfach los.

Watty: Das heißt aber, weil Sie gesagt haben, dass zur Diskussion gestanden hat, was dort hingebaut werden soll. Das war dann eine Diskussion, die an der Oberfläche stattgefunden hat, aber im Hintergrund werden diese Pläne offenbar dann eben auch von der Staatsregierung beeinflusst, was in Istanbul wie modernisiert wird, wie gebaut wird, welche Parks und Plätze verschwinden sollen?

Altindis: Ja, es ist wirklich, es ist total intransparent. Es wird überhaupt nicht darüber diskutiert, man wird hier vor vollendete Tatsachen gestellt. Dagegen wehren sich die ganzen wichtigen Organisationen, türkische Architektenkammer, Architektenvereinigungen, Städteplaner. Aber es auch so, dass die Bauwirtschaft und dieser Bauboom zur eigenen Sache von Erdogan und Erdogans Regierung erklärt worden ist, und Bauboom ist ja auch so das Zugpferd der türkischen Wirtschaft im Moment. Und da will man sich eigentlich nicht bremsen lassen. Und man hat gemeint, jetzt so weitermachen zu können. Aber das war im Prinzip der letzte Tropfen im Glas.

Watty: Der Architekt Erdogan Altindis im "Radiofeuilleton" im Deutschlandradio Kultur zu den Protesten in der Türkei und ihrem ursprünglichen Anlass, eine städtebauliche Planung in Istanbul. Herr Altindis, was heißt das, was Erdogan da versucht durchzudrücken, für die Stile von Neubauten und auch für das Stadtbild von Istanbul? Was sagt das über die Bauweise aus, die dort entsteht?

Altindis: Ja, es ist so auch in seiner gesellschaftlichen Art, wie er an die Leute herangeht, dass er sagt, eine türkische Familie sollte drei Kinder haben, man soll nicht Alkohol trinken. Das versucht er auch, im Erscheinungsbild der Architektur zu manifestieren. Also das heißt, dass man mehr osmanische Architekturstile verwendet, es gibt sogar so eine Art Programm, Schaubücher, wie die neue Art von Architektur hier in der Türkei sich entwickeln soll in den öffentlichen Gebäuden. Und das ist so ein bisschen auch so ein Disney-Gedanke, Disney-Architektur, und das zeigt auch ein bisschen das oberflächliche Kulturverständnis insgesamt. Und in der Architektur und Städteplanung ist es am meisten sichtbar.

Watty: Was kann man aber nun tun, beziehungsweise natürlich Mitspracherecht, eine transparentere Stadtplanung wäre die Lösung. Was muss dafür erreicht werden, jetzt unter anderem vielleicht auch durch diese Demonstrationen, die gerade stattfinden?

Altindis: Also das Beste, was man bei diesen Demonstrationen erreicht, dass man das Gefühl vermittelt, sie können nicht alles mit uns machen. Nein, wir wollen das nicht. Die Leute haben sich zusammengetan und haben gesagt: Wir werden in Zukunft nicht mehr zustimmen. Und die Zivilgesellschaften werden dadurch jetzt mehr Einfluss bekommen und sie müssen sich auf diese Dinge mehr einstellen.

Also, es kann im Moment nicht mehr so weiter gehen, wie es bisher gegangen ist, weil die Leute, die fühlen sich eben nicht geachtet. Und ich denke, das wird einiges bewegen. Also, die ersten Gespräche haben ja schon gestern stattgefunden mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten, jetzt muss sich die Regierung wirklich stellen und zeigen, wie wichtig ist ihnen Demokratieverständnis, wird sich jetzt dieser Teil durchsetzen. Ich denke, da werden wir auch uns dafür einsetzen, dass unsere Stimmen auch in Zukunft noch viel mehr gehört werden.

Watty: Sie sagen, die Menschen müssen mehr beachtet, mehr gehört werden. Wie weit muss denn da aber auch ein Strukturwandel stattfinden? Denn gibt es im Moment gar keine offenen Wettbewerbe für Bauprojekte in der Türkei, beziehungsweise wem gehören denn die Städte?

Altindis: Ich kann Ihnen sagen, dass die Städte im Moment leider Gottes, also auch die Bauprojekte, den Baufirmen gehören. Es ist ja wirklich krass, dass, wenn ein neues Entwicklungsprojekt stattfindet, dass das nicht die Stadt selbst macht, sondern die Stadt vergibt das an einzelne Baufirmen und sagt, okay, da könnt ihr jetzt neue Bauentwicklung machen, hier sind große Plätze in diesen Städten, schlagt uns was vor!

Also, das muss umgekehrt sein! Die Stadt muss fordern, mit ihren Fachleuten, also Architekten und Stadtplanern, Verkehrsplanern und so weiter, die müssen die Vorgaben machen und nach diesen Vorgaben sollten sich die Firmen richten, nicht umgekehrt. Und das findet leider im Moment so statt. Und das macht einen wirklich traurig, wenn solche Dinge sich entwickeln. Genau in diesen Strukturen müssen unbedingt Entwicklungen stattfinden, da die Türkei ein zentral regiertes Land ist, zwar die Kommunalpolitik schon was zu sagen hat, aber die Kommunalpolitiker sind alle auch von der Partei Erdogans. Und da müssen also wirklich auch diese Leute gehört werden, die stadtplanerisch wichtig sind und da was zu sagen haben!

Watty: Danke schön an Erdogan Altindis, Architekt in Istanbul. Wir haben gesprochen über Proteste und Städtebau in Istanbul beziehungsweise der Türkei, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie nach Istanbul!

Altindis: Vielen Dank und Grüße nach Berlin!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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Istanbul, Gezi Park: Demonstration gegen die türkische Regierung© picture alliance / abaca