"Das türkische Volk hat sich in diesen Tagen verändert"

Moderation: Stephan Karkowsky · 05.06.2013
Viele Künstler und Intellektuelle in der Türkei fühlen sich durch die andauernden Proteste bestärkt, sagt Autor Moritz Rinke, derzeit Stipendiat an der deutschen Kunstakademie in Istanbul. Zwischen den Menschen verschiedenster Bevölkerungsgruppen sei ein "großes Band" entstanden.
Stephan Karkowsky: Die Bedeutung der sozialen Medien für den Arabischen Frühling wurde sicherlich gewaltig übertrieben, aber genau das hat Autokraten aufhorchen lassen. Wer die Ausbreitung von Protesten verhindern will, muss die Kommunikationswege der Jugend behindern: Mobilfunk und Internet. Am Taksim-Platz in Istanbul soll die Polizei Störsender aufgebaut haben, und nun hat sie sogar Nutzer des Kurznachrichtendienstes Twitter verhaftet. Die hätten irreführende und beleidigende Informationen verbreitet.

Das verwirrt nicht nur natürlich die Menschen, die am Taksim-Platz protestieren, das verwirrt auch die deutschen Künstler, die derzeit gerade ein Stipendium an der deutschen Künstlerakademie in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Istanbul.

Einer davon ist der Theater- und Romanautor Moritz Rinke. Guten Tag, Herr Rinke!

Moritz Rinke: Ja, guten Tag!

Karkowsky: Herr Rinke, ich habe Sie gesucht bei Twitter, habe Sie nicht gefunden. Twittern Sie gar nicht?

Rinke: Nein, ich twittere überhaupt nicht, obwohl das jetzt ganz nützlich wäre. Ich habe aber in meinem ganzen Leben, glaube ich, noch nie so viel gepostet bei Facebook über das, was hier passiert, weil das Meiste quasi im Internet geschieht, dass also Aktivisten sich organisieren, dass sie sich über Facebook verabreden. Und das wurde dann zeitweilig auch gestoppt durch das türkische Kommunikationsministerium, also die ...

Karkowsky: Wie haben die das gestoppt?

Rinke: Die haben Zugriff - das haben die schon mal vor zwei, drei Jahren gemacht, dass sie eben immer dann, wen sich etwas im Internet, bei Twitter, im Facebook-Bereich zusammenbraut, dass sie dann versuchen - die haben Zugriff auf diese Websites, wie sie das genau technisch machen, weiß ich nicht.

Es gibt dann wiederum, im Internet kursieren auch Tricks, wie man wiederum dieser Blockierung durch das türkische Kommunikationsministerium entgeht. Ich weiß nur, dass es eben blockiert wurde und dann teilweise wieder frei ist.

Karkowsky: In welcher Sprache kommunizieren Sie denn da auf Facebook?

Rinke: Ich habe das Glück, dass ich sehr viele Türken hier kenne, die wunderbar Deutsch sprechen. Ursprünglich fing das an, dass ich hier am 31. Mai, also in der Nacht zum Samstag, mir am Abend einen Hochzeitsanzug kaufte, weil ich eben heiraten werde, auch in Istanbul, ...

Karkowsky: Vorab schon herzlichen Glückwunsch!

Rinke: Ja, vielen, vielen Dank! Und dann bin ich durch den Gezi-Park gelaufen mit einem Schauspieler, der hier gerade ein Stück von mir spielt. Und der wollte mir diesen Gezi-Park und diese wirklich friedliche Zusammenkunft dieser Menschen dort zeigen, die eben gegen diese Abholzung der Bäume protestieren, die gegen dieses Einkaufszentrum protestieren, das dort eben Erdogan, der Regierungschef der AKP, in einem Alleingang durchgesetzt hat, also eine osmanische Kaserne nachgebaut, und das soll dann ein Einkaufszentrum werden, und das ist der letzte Park, den die Istanbuler hier haben.

Und dann wurde dieser Park angegriffen von Polizisten mit Gasgranaten, mit Wasserwerfern ... tja, und so begann das für mich hier, dass ich also quasi mit den Hochzeitsanzug, den ich irgendwie mir vor die Augen hielt ...

Karkowsky: Also mit angegriffen meinen Sie unprovoziert angegriffen?

Rinke: Ja, ja, die Strategie der Polizei ist, dass sie eben immer ohne Ankündigung Aktivisten angreift, das ist nicht nur in Istanbul, das ist auch in Ankara so, in vielen anderen Städten. Istanbul ist ja nicht die einzige Stadt, in der momentan die Menschen auf die Straßen gehen.

Das ist eigentlich sehr schön zu beobachten, wie also eine Stadt, die eigentlich eine relativ aggressive Stadt ist - dieser ermüdende Verkehr, die Menschen, die alle immer im Stress sind, immer gehetzt sind, keiner achtet auf Fußgänger, man muss immer quasi über die Straße springen, damit man irgendwie nicht erfasst wird, und plötzlich überall Rücksichtnahme.

Die Hotels öffnen ihre Lobbys, lassen die Leute dort liegen, die irgendwie verwundet sind oder nichts mehr sehen, weil sie Tränengas in den Augen haben, überall werden die Restaurants geöffnet für Leute, die irgendwie Hunger haben, und es ist irgendwie Galatasaray- und Fenerbahçe- und Bekºitaº-Fans, ja, sämtliche Fans, Fußballfans in Istanbul, die sich eigentlich auf den Tod hassen, so vereinigen und gemeinsam über den Taksim-Platz hier marschieren, das sind wirklich Bilder, das hat es, glaube ich, so noch nicht gegeben, das berichten zumindest die vielen türkischen Freunde hier.

Und dann hat es dieses wunderbare Bild gegeben der Tausenden, die aus dem asiatischen Teil über die Brücke liefen nach Bekºitaº zu einer Demonstration: Nachts, weil der Fernverkehr eingestellt wurde, die Metro nicht mehr fuhr, sind die Menschen über die Brücke gelaufen, zu Fuß.

Und normalerweise fahren da Tausende von Autos, die konnten nicht mehr fahren, die haben sich hinten angeschlossen, mit Hubsignalen dann diesen Demonstrationszug, der sich zu Zehntausenden ausweitete, begleitet, die dann sozusagen quasi über das Meer im Sonnenaufgang Richtung Bekºitaº liefen und dort ihre Kundgebung feierten, dann eigentlich wieder von Polizei empfangen wurden, dann gab es wirklich extreme Schlachten, immer in den Nächten gerade in Bekºitaº, der mittlerweile ein sehr moderner Stadtteil ist, in dem sehr reiche Leute leben, aber auch eben noch diese vielen Linken des Bekºitaº-Istanbul-Clubs - das kann man sozusagen vergleichen mit St. Pauli. Und da gibt es eben viele Aktivisten, die auch dort aktiv werden, und darum ist das eigentlich immer ein nächtliches Schlachtfeld dort.

Karkowsky: Sie hören den Theater- und Romanautor Moritz Rinke, der bis August noch Stipendiat ist an der deutschen Künstlerakademie Tarabya in Istanbul. Herr Rinke, wie macht man das denn, wie machen Sie das als Deutscher in Istanbul? Halten Sie sich da jetzt möglichst fern von den Plätzen des Protestes oder gehen Sie schon mal gucken?

Rinke: Also es ist eigentlich sehr schwer, sich fernzuhalten, weil erstens passiert so etwas, glaube ich, nicht ganz so oft. Also viele, die, sagen wir mal, die DDR miterlebt haben und gerade hier sind - ich habe mit zwei gesprochen, einem Journalisten, der sich sehr erinnert fühlt an diese Leipziger Demonstrationen, die sich ja dann immer mehr ausweiteten zu einer wirklichen Umwälzung der Verhältnisse.

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Moritz Rinke - Schriftsteller und Dramaturg ist gleichzeitig Kapitän der Autorennationalmannschaft (Autonamas) des DFB.
Moritz Rinke - Schriftsteller und Dramaturg© picture alliance / dpa /Harlheinz Schindler
"Dieses große Band"
"Ich weiß nicht, wie weit das hier geht, aber mittlerweile ist es so, dass eben viele Türken berichten, dass sie so was noch nicht erlebt haben, dieses große Band, was so zwischen den Menschen entsteht. Und das sind ja nicht diese Minderheiten, von denen Erdogan, also der Regierungschef immer spricht, sondern ...

Karkowsky: Also Aleviten, Christen, Kemalisten ...

Rinke: ... Kemalisten, Rentner, verhüllte Frauen, Studenten, Akademiker, Geschäftsleute ...

Karkowsky: Glauben Sie, es sind auch welche dabei, die Erdogan selbst gewählt haben?

Rinke: Bestimmt, also davon gehe ich aus. Erdogan hat ja am Anfang Dinge gemacht, die das Volk sehr begrüßte. Er hat das ungeliebte Militär abgeschafft, er hat natürlich Arbeitsplätze geschaffen, er ist ein sehr neoliberaler, der Wirtschaft zugewandter Mann, der aber in den letzten Jahren völlig den Blick verloren hat für die Realitäten der Menschen.

Ich habe in den letzten Jahren dreimal gegen die Autorennationalmannschaft der Türken gespielt, die spielen in einer Fußball-Autorennationalmannschaft, das sind also Schriftsteller, die gegen Schriftsteller spielten. Und wir spielten gegen die Türkei, und jedes Mal war die türkische Mannschaft eine andere Mannschaft, weil immer welche im Gefängnis saßen.

Also es gibt, glaube ich, neben China kein Land, das so viele Schriftsteller und Journalisten einsperrt. Und diese Rolle des Aufbegehrens lag meines Erachtens immer bei diesen Intellektuellen, und das hat sich offenbar jetzt geändert. Durch diesen Mut, den die Menschen gemeinsam auf der Straße entwickeln, wächst auch diese Kraft, dass etwas möglich ist, also die AKP müsste eigentlich merken, dass es jetzt jemanden gibt, der sagt: Hallo? Wir sind keine marginalisierten Außenseiter, sondern wir sind eigentlich ein Volk!

Und es kann diesen Autokraten-Regierungsstil, diese islamische Austrocknung allen Lebens - es wird ja hier der Alkohol verboten auf den Straßen, den Frauen wird jegliche Selbstbestimmung genommen, was Abtreibung, was Pille danach et cetera, also viele Dinge -, Abschaffung von Kinos - hier gab es vor zwei Tagen große Proteste gegen die Schließung eines geliebten Kinos -, all das wird immer den ökonomischen Zwängen untergeordnet.

Und diese neoliberale Ausrichtung der Regierung, gepaart mit dieser quasi putinhaften, mit dem chinesischen Verständnis, wie man ein Volk führt, das ist ja eine ganz interessante Mischung. Im Westen glaubt man, sobald die Menschen irgendwie sich sozusagen ökonomisch öffnen und Aktien, - und an all diesen Dingen partizipieren, sei das Demokratie, und so versteht es auch Erdogan. Und ich glaube, dass diese Form von Demokratie, dass man nur Wahlen hat, nicht funktioniert.

Karkowsky: Wie fühlt sich das Ganze denn an? Die Parallelen zum Arabischen Frühling sind zumindest optisch da, aber Erdogan ist ja kein Diktator, das ist ja ein demokratisch gewählter Regierungschef, der, wie Sie sagten, ja auch ...

Rinke: Genau, das aber sind ja Regime gewesen, die dort gestürzt wurden oder zumindest ins Wanken gebracht wurden. Und hier spricht man ... man spricht natürlich von einer Demokratie, obwohl jetzt immer deutlicher wird, und das ist das Enorme an diesen Tagen, dass diese Demokratie dringend zu hinterfragen ist, weil sie eigentlich keine ist. Den Vergleich mit dem Arabischem Frühling würde ich jetzt nicht so ziehen, aber es ist ein bisschen davon.

Karkowsky: Wenn jetzt also die normalen Menschen die Straße übernommen haben auf dem Taksim-Platz, was machen Intellektuellen, die Künstler?

Rinke: Also die Intellektuellen und die Künstler, das kann man nicht so trennen, die sind natürlich, wenn Sie die türkischen meinen, die sind natürlich allesamt, denke ich, dabei, und für die ist das natürlich eine wunderbare Entwicklung, und das höre ich immer wieder, dass diese Menschen geradezu beglückt sind, dass endlich auch die anderen, die vorher geschwiegen haben, mitgehen, also dieses Brückenbild, was ich Ihnen vorher beschrieben habe, das war für viele ein Glücksgefühl, dass Zehntausende plötzlich sagen Nein und zu dieser Kundgebung laufen.

Das hat es so noch nicht gegeben, und da sind natürlich die Intellektuellen und Künstler jetzt unheimlich bestärkt. Sie waren immer alleine, sie haben viel Zeit mit Repressionen zugebracht, saßen im Gefängnis, und je mehr es werden und je mehr verstanden wird, dass es einfach nur Mut bedarf, dann, glaube ich, kann sich auch etwas entwickeln. Ich glaube, der Erdogan wird - ich weiß nicht, ob sich sichtbar was ändert, aber das türkische Volk, so sagen es zumindest die Freunde, die ich habe, hat sich verändert in diesen Tagen, und das ist etwas, finde ich, sehr Schönes.

Karkowsky: Der Theater- und Romanautor Moritz Rinke. Bis August ist er noch Stipendiat an der deutschen Künstlerakademie Tarabya in Istanbul, wo er die nächsten Tage wohl auch heiraten wird, wie wir hier gehört haben. Herr Rinke ...

Rinke: Ja, das dauert noch ein bisschen.

Karkowsky: Für Ihren Bericht von den Protesten, herzlichen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Tausende Protestteilnehmer rücken auf den Taksim-Platz vor
Protestteilnehmer rücken auf den Taksim-Platz vor© picture alliance / dpa / Tolga Bozoglu
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