Die Wurzeln des Terrors

Von Martin Zähringer · 03.02.2013
Bislang galten Terroristen in der Wissenschaft oft als Außenseiter und "Politpathologen". In einem jüngst erschienenen Sammelband analysieren Konflikt- und Gewaltforscher nun die Milieus, in denen Terroristen sich aufhalten und Mittäter rekrutieren.
Es ist ein doppelt aufschlussreiches Buch, das hier vorliegt. Spannend ist nicht nur, was die Autoren aus der Gewalt- und Terrorismusforschung zu berichten haben. Bemerkenswert ist auch, wie sich diese Forschung im Laufe der Zeit verändert hat.

Zunächst der Blick in die Vergangenheit. Peter Waldmann hat schon 1998 ein Standardwerk vorgelegt, Titel: "Terrorismus. Provokation der Macht". Von bleibendem Interesse sind vor allem die historischen Bezüge, in die Waldmann den Terrorismus stellt. Er beginnt mit Zeloten und Zikariern im antiken Judentum, um dann zum islamistischen Terror unserer Zeit überzugehen. Die russischen Anarchisten im 19. Jahrhundert erscheinen bei ihm als geschichtliche Vorläufer von ETA, IRA und RAF. Mit dieser Tendenz zum Historischen unterläuft Waldmann das Interesse am Terror als skandalträchtiger Ausnahmeerscheinung. Und das ist von Vorteil, wenn man eine möglichst weite Sicht auf ein globales Phänomen haben will.

Im neuen Band nun verschieben Waldmann und sein Mitherausgeber Stefan Malthaner den soziologische Fokus erheblich. Was hat sich verändert? Während Waldmann 1998 noch über die wiederkehrenden Rollenmerkmale von Terroristen schreibt ...

"Terroristen, im Regelfall eine winzige Minderheit, nehmen eine ausgesprochene Außenseiterrolle ein, stehen in jedem Fall am Rande der Gesellschaft, gleichgültig, ob sie diese angreifen oder gegen eine überlegene Macht verteidigen."

... so notieren Waldmann und Malthaner heute in ihrem gemeinsamen Vorwort:

"Radikalisierung und terroristische Gewalt sind das Resultat von politischen und sozialen Prozessen, die einen breiteren Kreis von Personen involvieren und nicht isoliert von diesem untersucht werden können. Terroristische Verbände entstehen und operieren in einem spezifischen sozialen Umfeld - in diesem Band als radikales Milieu bezeichnet -, das ihre Ziele teilt, bestimmte Formen von Gewalt befürwortet, mit dem sie interagieren, und auf dessen logistische und moralische Unterstützung sie angewiesen sind."

Das ist ein großer Schritt der Wissenschaft. Der Terrorist ist jetzt kein psychologisches oder pathologisches Problem mehr, sondern Akteur in einem Umfeld, das als radikales Milieu bezeichnet wird.

Elf Milieustudien zu weltweiten Terrorzellen
Wie dieses Umfeld operiert und interagiert, beschreiben elf fundierte Studien. Sie thematisieren Anarchisten, ETA, IRA und RAF, sie beleuchten Salafismus und Jihadismus in der Diaspora. Drei Artikel erörtern das salafistische Hofstad-Netzwerk in Holland, das Internet als neue Form des radikalen Milieus sowie die Sauerland-Gruppe und ihr soziales Umfeld.

Die soziologische Kühnheit dieses Bandes liegt auch darin, die doch sehr verschiedenen Milieus miteinander zu vergleichen - so wie es Herausgeber Waldmann mit einer vergleichenden Studie über ETA, IRA und Hisbollah tut.

Der Leser sieht sich hin und wieder mit innerakademischen Problemen konfrontiert, etwa wenn im Beitrag über transnationale Felder und das salafistische Hofstad-Netzwerk die Feldtheorie von Pierre Bourdieu verteidigt wird. Auch der Beitrag über das Internet scheint sich fachintern beweisen zu müssen. Zunächst referiert die Autorin ausführlich ihre von Waldmann übernommenen Konzepte und Thesen, um dann endlich ihr eigenes Projekt anzukündigen:

"In diesem Beitrag will ich zeigen, dass viele der grundlegenden Merkmale des 'traditionellen' radikalen Milieus genauso in radikalen Online-Milieus wiederzufinden sind, und will damit das Konzept des radikalen Milieus auch auf die virtuelle Sphäre ausweiten."

Das ist zweifellos angesagt, wie die Autorin dann nicht nur am Beispiel des Kopfabschneiders al-Zarqawi zeigen kann. Entschieden bedeutsam für die aktuelle Debatte sind zwei Beiträge zum Rechtsradikalismus unserer Zeit, merkwürdigerweise ist nur einer explizit auf Deutschland bezogen. Er ist jedoch wert, herausgehoben zu werden. Sein Titel: "Menschenfeindliche Mentalitäten, radikalisierte Milieus und Rechtsterrorismus". Die Autoren Borstel und Heitmeyer schreiben über rechtsradikale terroristische Zellen:

"Diese stellen aufgrund ihrer klandestinen Operationsweise ein schwieriges Feld für die wissenschaftliche Analyse dar, die nicht über geheimdienstliche Informationen verfügt und diese auch nicht benutzen sollte. Der Grund ist offenkundig: Geheimdienstliche Informationsbestände sind immer an regierungsamtlich kalkulierte Interessen gebunden, also nicht durchschaubar."

Abgesehen von der bitteren Ironie der Geschichte ist diese Aussage von einer besonderen Qualität. Richtet sie doch unseren Blick kritisch auf den Umstand, dass diese verdunkelten "regierungsamtlich kalkulierten Interessen" von der Öffentlichkeit oder den Medien in Deutschland kaum oder selten grundlegend in Frage gestellt werden.

Cover: "Radikale Milieus" von Stefan Malthaner, Peter Waldmann (Hg.)
Cover: "Radikale Milieus" von Stefan Malthaner, Peter Waldmann (Hg.)© Campus Verlag
Auch der rechtsextreme NSU wird analysiert
Die Rolle des Staates in den rechten Szenen ist noch immer völlig unterbelichtet, daran ändern auch die wohlbestallten Akademiker nichts. Dafür nähern sich die Soziologen endlich den undurchschaubaren gesellschaftlichen Sümpfen. Zum Beispiel jenem, von dem sich die Zwickauer Zelle des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" nährte:

"Dabei ist der Kenntnisstand zu Beginn des Jahres 2012, dass es sich nicht um eine isolierte Zelle mit wenigen, das heißt drei Mitgliedern handelte, sondern dass dies in ein stützendes radikalisiertes Milieu eingebettet war; ein Milieu, das wiederum von Verbindungen zu weiteren rechtsextremistischen Kreisen profitierte, und welches darüber hinaus aus einem gesellschaftlichen Vorrat an Abwertungen und Diskriminierungen gegenüber schwachen Gruppen, also auch Migranten, in der Gesellschaft schöpfte."

Und in der Vergangenheit, so die Autoren, haben die Staatsorgane stets versichert, dass rechtsterroristische Gruppen in Deutschland gar nicht existieren. Vielleicht ist noch erschreckender: In der soziologischen Sichtweise zeigt sich der rechte Terrorist in einem sehr breiten, radikalen Milieu, das weit in die Gesellschaft ausgreift.

Der Ansatz von den radikalen Milieus ist hier einleuchtend, macht er doch zwei Symptome zugleich sichtbar. Zum einen, wie sich die sozialen Situationen verändern, die terroristische Aktivitäten erst möglich machen. Zum anderen, dass die soziologischen Theorien und Ansätze selbst wandlungsbedürftig sind.

Eine interessante Konsequenz bei den Autoren: Sie haben mit ihrem Ansatz die soziologische Perspektive globalisiert. Das ist ein guter Anfang für den notwendigen Wandel. Jetzt müssten sie noch deutlicher machen, inwieweit das nationale Phänomen des Rechtsradikalismus in europäischen Zusammenhängen funktioniert.

Stefan Malthaner, Peter Waldmann (Hg.): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen
Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2012
390 Seiten, 34,90 Euro


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