Elena Medel: "Die Wunder"

Wenn die Großmutter emanzipierter ist als die Enkelin

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Auf dem Cover ist die Schwarz-weiß-Fotografie einer jungen Frau zu sehen, über die ein Rotfilter gelegt wurde. Darauf in weißer Schrift der Buchtitel und Autorinname.
© Suhrkamp Verlag

Elena Medel

aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange

Die WunderSuhrkamp, Berlin 2022

219 Seiten

23,00 Euro

Von Victoria Eglau · 16.08.2022
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Zwei Frauen aus Spanien, Großmutter und Enkelin – zwei Lebenswege mit Parallelen, aber auch großen Unterschieden. Elena Medels Roman "Ein Wunder" ist Gesellschaftsroman und psychologische Studie, mit Leerstellen, die die Leser selbst füllen sollen.
María und Alicia sind Großmutter und Enkelin. Dass sie sich nicht kennen, haben schwierige familiäre Umstände verhindert. Ihre Lebensgeschichten erzählt Elena Medel in "Die Wunder".
Beide Frauen ziehen aus Südspanien in die Hauptstadt Madrid, allein. María Ende der Sechziger-Jahre und Alicia zu Beginn des neuen Jahrtausends. Ihre Beweggründe sind ganz unterschiedlich – und ihre Haltung zum Leben ist es auch.
Elena Medel porträtiert zwei Spanierinnen aus der Arbeiterklasse, beobachtet sie in unterschiedlichen Situationen ihres Lebens, abwechselnd mal die eine, mal die andere. Ein interessantes Wechselspiel vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen ihres Landes in den vergangenen Jahrzehnten.

Die Schranken des spanischen Klassensystems

Das Leben mit wenig Geld ist ein zentrales Thema in Medels Roman. "Die Wunder" handelt vom spanischen Klassensystem, dessen Schranken im Leben der Großmutter María noch sehr ausgeprägt sind.
Auch in Alicias Leben existieren sie, allerdings subtiler. Die Enkelin arbeitet als Verkäuferin in einem Kiosk. Sie hadert mit ihrem Unterschichtleben – vor allem, weil ihre Familie sozial aufgestiegen war, aber wieder verarmte, nachdem der Vater angesichts seiner Schulden Selbstmord verübt hatte.
Ihren schlecht bezahlten Job, das Zusammenleben mit einem Mann, den sie nicht liebt, der ihr aber Sicherheit bietet, all das betrachtet Alicia als ihr verhasstes, aber unabänderliches Schicksal.

Maria putzt für andere und bildet sich

María, die Großmutter, hatte es zweifellos noch schwerer als Alicia. In der zutiefst konservativen Atmosphäre der Franco-Diktatur schicken ihre Eltern sie weg, nachdem sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Eine Schande für die Familie, María muss das Baby zurücklassen und in Madrid als Dienstbotin arbeiten.
Zeit ihres Lebens putzt María für andere. Aber sie bildet sich weiter, liest, geht ins Kino. Mit ihrem langjährigen Partner diskutiert sie über Politik, aber will nicht mit ihm zusammenziehen: Ihre Unabhängigkeit ist ihr wichtiger als finanzielle Vorteile. Damit ist María viel emanzipierter als ihre Enkelin.

Opfer mit und ohne Würde

Werden sich die beiden Frauen am Ende kennenlernen? "Die Wunder" sei ein Roman voller Leerstellen, die die Leser mit ihren Empfindungen füllen sollen, sagt Elena Medel selbst über ihren Roman.
Es sind durchaus widerstreitende Gefühle, die man für die beiden Hauptfiguren entwickelt. Alicia fühlt sich als Opfer des ökonomischen auf und ab in Spanien, jede Nacht träumt sie vom Selbstmord ihres Vaters. Und doch stößt sie oft ab durch ihr verächtliches Verhalten gegenüber Menschen, denen sie sich überlegen fühlt.
Ganz anders die würdevolle und feministisch engagierte María, die zur Sympathieträgerin wird, obwohl sie den Kontakt zur eigenen Tochter abgebrochen hat.
"Die Wunder" ist Gesellschaftsroman und psychologische Studie zugleich: In einer eleganten, bildreichen Sprache reflektiert Medel darüber, wie sehr die soziale Herkunft unseren Lebensweg vorzeichnet, wie aber letztendlich von unserem Willen und Charakter abhängt, welchen Sinn wir unserem Leben geben.
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