Die Wirklichkeit erfinden

Fluch und Segen des Narrativs

30:34 Minuten
Illustration: Eine Frau kommuniziert, viele pastellfarbene Sprechblasen hängen vor ihrem Mund.
Ursprünglich hatte der Begriff "Narrativ" eine neutrale Bedeutung. Inzwischen wird er oft abwertend verstanden. © imago / Ikon Images / Jasmin Jones
Von Sieglinde Geisel · 07.02.2022
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Es heißt: Der Mensch ist das Tier, das Geschichten erzählt – und die sind längst in der Politik angekommen. Allerdings ist bei einem erfolgreichen Narrativ nicht entscheidend, ob es mit der Realität übereinstimmt oder Fake News verbreitet.
"Kinder brauchen Märchen", so heißt ein berühmtes Buch von Bruno Bettelheim. "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben", schreibt die amerikanische Autorin Joan Didion.
"Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben. Wir interpretieren, was wir sehen und suchen uns die praktikabelste der verschiedenen Lösungen aus. Wir leben voll und ganz darin, dass wir eine narrative Linie über verstreute Bilder legen."

Das Feature "Die Wirklichkeit erfinden: Fluch und Segen des Narrativs" wurde erstmals am 31. Mai 2021 gesendet.

"Wenn man es aus dem biologischen Blickwinkel unserer Sinne her betrachtet, empfängt unser Geist von der Welt nur bruchstückhafte Informationen", sagt Alberto Manguel. "Hätten wir nur diese Fragmente – ein Geruch, eine Farbe, eine Form, ein Klang –, ergäbe das Universum für uns keinen Sinn. Erst, wenn ich meine Vorstellungskraft einsetze, um eine Erzählung zu konstruieren, kann ich mit der Welt in einen Austausch treten."

Kind: "Erzähl mir eine Geschichte, Großmutter!"
Großmutter: "Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel."
Philip Jessen von Storymaschine: "Geschichten lassen sich gut erzählen, sind spannender, sind lustiger, als es Fakten vielleicht sind, und eine gut erzählte Geschichte wirkt aus sich heraus dann einfach wahr."

Alberto Manguel ist der Autor des Klassikers "Eine Geschichte des Lesens". Er hat sein ganzes Leben darüber nachgedacht, warum wir Geschichten brauchen.
"Ich glaube, dass es dafür einen biologischen Grund gibt. Nach Darwin entwickeln wir als Tiere Werkzeuge, um zu überleben, und die menschliche Gattung hat die Vorstellungskraft entwickelt, als Überlebenswerkzeug", erklärt er. "Die Vorstellungskraft erlaubt es uns, eine Erfahrung zu machen, ohne diese Erfahrung tatsächlich machen zu müssen. Wir können uns vorstellen, was geschehen wird, wenn wir nach links oder nach rechts gehen, oder wenn uns jemand begegnet, und wir nutzen Geschichten dazu, die Vorstellung einer Erfahrung zu konstruieren. Wir benutzen den narrativen Impuls."

Erzählen als Überlebensimpuls

Auch das Vergnügen, das Geschichten uns bereiten, sei kein Selbstzweck: "Wir nutzen Geschichten. Wir benutzen den narrativen Impuls. Vergnügen bereitet das Erzählen erst in zweiter Linie, wie bei den anderen Überlebensimpulse auch, es ruft alle möglichen Emotionen hervor. Es ist wie beim Sexualakt: Sein Ziel besteht nicht darin, uns zu befriedigen, sondern die Gattung fortzusetzen. Aber damit wir es tun, muss es uns Vergnügen bereiten. Und so verhält es sich auch mit dem Geschichtenerzählen: Sein Sinn besteht darin, dass wir uns in der Welt zurechtfinden."
Buchautor Alberto Manguel beim Kosmopolis Festival in Barcelona, 2015
Alberto Manguel hat sein ganzes Leben darüber nachgedacht, warum wir Geschichten brauchen.© dpa / picture alliance / EPA/ALEJANDRO GARCIA
Um uns in der Welt zurechtzufinden, müssen wir sie uns zu eigen machen: "Unser Gehirn ist nicht nach den Dimensionen des Universums strukturiert. So denken wir uns die Dinge etwa in einer Reihenfolge: Etwas kommt vorher, etwas anders nachher, etwas ist rechts oder links, oben oder unten. Doch das sind Konventionen, im Universum existiert so etwas nicht. Um eine Erzählung zu konstruieren, muss man irgendwo beginnen.
Der Rote König in ‚Alice im Land der Spiegel‘ gibt dem Gerichtsdiener folgende Regel: ‚Fang mit dem Anfang an, geh weiter durch die Mitte, und wenn du zum Ende kommst, hör auf.‘ So funktionieren Geschichten. Aber die Welt funktioniert nicht so, deshalb fragen wir ständig: Wie hat es angefangen? Ah, Schöpfungsgeschichten! Und wie wird es aufhören? Da haben wir die Apokalypsen."

Das "Narrativ" macht von sich reden

"Und dort sehen Sie, wie die Kurve ansteigt", sagt Michael Solf", "seit dem Ende der 70er-Jahre bis etwa zum Jahr 2000, dort kurz stagniert, um dann richtig abzuheben, und inzwischen findet sich das Wort in einer unteren mittleren Häufigkeit."
Michael Solf ist Lexikograf. Für das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache bearbeitet er den Eintrag zum Stichwort "Narrativ". Die Überarbeitung wurde nötig, weil das Wort in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat. "Unter einer Million Wörtern stecken sechs Narrative, aber wir haben natürlich viele, viele, viele Millionen Wörter. Das heißt, das Wort ist bei uns viele Tausende Male belegt", erklärt er.
Ursprünglich hatte der Begriff "Narrativ" eine neutrale Bedeutung: "Was wir Ende der 70er-Jahre zunächst finden, das ist so etwas wie ein vorgefundener, konstruierter, sinnstiftender Zusammenhang zwischen einer Folge von Ereignissen und Sachverhalten."
Doch das hat sich geändert: "Man kann aber feststellen, dass der Begriff Narrativ in politischen, gesellschaftlichen und ähnlichen Diskursen häufig benutzt wird, um andere Überzeugungen zu relativieren und sie als willkürlich zu kennzeichnen, als bloße Fiktion, als artifiziell, als etwas, das eigentlich nicht wirklich da ist."

Kind: "Erzähl mir eine Geschichte!"
Großmutter: "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt."
Maren Urner, Neurowissenschaftlerin: "Es wird sich immer ein Narrativ heranziehen und notfalls bauen."

Für seine These, dass "Narrativ" ein abwertender Begriff sei, hat Michael Solf einen ganz einfachen Beweis: "Versuchen Sie mal eine Ersetzungsprobe. ‚Das Narrativ von der Unterdrückung der Frau‘ – funktioniert das gut? Wenn das nicht funktioniert, dann sind wir am Kern der Sache angekommen."
Wer die Unterdrückung der Frau als bloßes Narrativ bezeichnet, negiert den Sexismus. Vieles von dem, was wir heute als Narrativ bezeichnen, hätte man früher Ideologie genannt: "Ich denke, das ist einer der Gründe für den Erfolg eines solchen Wortes. Als hätte man auf eine wissenschaftlich verbrämte Variante der Diskriminierung nur gewartet."

Sind die großen Erzählungen am Ende?

"Es scheint, als hätten wir uns bisher getäuscht über das, was Gesellschaften und Nationen zusammenhält. Es sind nicht Verträge, Verfassungen, Gründungsmythen, gemeinsame Sprache und Kultur, Religion oder Ideologie. Es ist das Narrativ, Dummchen!"
So heißt es in einem Artikel, der 2018 in der "Welt" erschienen ist. Der Journalist und Autor Matthias Heine schreibt in der Rubrik "Modewort" über die erstaunliche Karriere des Begriffs "Narrativ". Ursprünglich stammt das Wort aus dem Buch "Das postmoderne Wissen" des französischen Philosophen François Lyotard. Lyotard verwendet darin den französischen Begriff "grand récit".
Diese Meta-Erzählungen seien in der Postmoderne in die Krise geraten, sagt Heine im Interview: "Das war eben geboren aus dieser von Lyotard so gesehenen Tatsache, dass die großen Erzählungen der Vergangenheit – die Aufklärung, der Staat, der fürsorgliche Staat, die Nation – oder noch älter, das Christentum, ‚Gott ist allmächtig‘, dass die ihre Strahlkraft verloren hatten nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch oder der Beschädigung des Kommunismus und er plötzlich eine Art Verbalisierung suchte, in der man klar machen konnte, dass das eben alles Narrative, Narrationen, Imaginationen oder eben bloß Erzählungen sind und nichts Unveränderliches, und dass es immer einen Kampf solcher Erzählungen gibt. "
Früher galten diese Großerzählungen nicht als Narrativ, sondern als Norm. In der pluralistischen Gesellschaft werden sie abgelöst von Mikro-Narrativen: Jede Identität hat ihr eigenes Narrativ.
"Ein Großnarrativ, das lange Zeit nicht infrage gestellt wurde, war ja Mann und Frau. Dass es einfach Mann und Frau gibt. Wenn Sie jetzt non-binäre Identitäten schaffen, schaffen Sie damit neue Mikronarrative, die dieses Großnarrativ infrage stellen. Und das ist eben alles natürlich Ausdruck einer Krise, die aber auch Aufbruch ist. "

Ein Tier, das Geschichten erzählt

"Humans are story-telling animals", sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari in einer Online-Veranstaltung von Los Angeles Live Talks: "Menschen sind Tiere, die Geschichten erzählen. Unsere Identität basiert auf den Geschichten, die wir glauben. Kaum je gelingt es, Menschen zu politischem Handeln zu inspirieren, indem man ihnen wissenschaftliche Tatsachen erklärt. Wenn Sie den Leuten sagen: ‚e = mc²‘, eine grundlegende Gleichung der Physik – wer wird dann für Sie stimmen? Um Menschen zu inspirieren, brauchen Sie eine Geschichte, eine Mythologie mit mehr oder weniger Nähe zur Wahrheit."

Kind: "Noch eine!"
Großmutter: "Es herrscht Bürgerkrieg. Die Rebellen, deren Raumschiffe von einem geheimen Stützpunkt aus angreifen, haben ihren ersten Sieg gegen das böse galaktische Imperium errungen."
Mathias Heine, Journalist und Autor: "Und gleichzeitig klingt es natürlich auch gleich besonders intellektuell und besonders kritisch, wenn man Sachen als Narrativ bezeichnet."

Eine jüdische Lehrgeschichte aus dem 11. Jahrhundert: Wahrheit, nackt und kalt, wurde an jeder Tür des Dorfs abgewiesen. Ihre Nacktheit machte den Menschen Angst. Als Parabel sie fand, kauerte Wahrheit in einer Ecke, zitternd und hungrig. Parabel bekam Mitleid, hob Wahrheit auf und nahm sie mit nach Hause. Hier kleidete sie Wahrheit in eine Geschichte, sie wärmte sie auf und schickte sie wieder los.
Gekleidet in eine Geschichte, klopfte Wahrheit wieder an die Türen des Dorfs, und nun hieß man sie willkommen. Die Dorfbewohner luden sie ein an ihren Tisch und ließen sie an ihrem Feuer sitzen.
Der Historiker Harari sagt: "Wenn sie den Menschen die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, dann wird kaum jemand für Sie stimmen. So würden Sie nie Präsident oder Premierminister."

Emotionen sind die wichtigste Zutat

"Die wahrscheinlich wichtigste Zutat, die Geschichten mit sich bringen, sind Emotionen", sagt die Neurowissenschaftlerin und Autorin Maren Urner. "Das, was uns eben vor allem reizt, und warum wir Dinge besser abspeichern können, sind Emotionen, also deshalb funktionieren auch die reinen Fakten, wenn wir versuchen, die irgendwie weiterzugeben, niemals so gut, als wenn wir eine Geschichte drumherum erzählen.
Geschichten verbinden das faktische Wissen mit unserem erlebten Erfahrungshorizont. Das hat auch eine körperliche Dimension, so die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling 2017 in einem Vortrag auf der re:publica.
Elisabeth Wehling posiert auf der phil.cologne 2019 in Köln für ein Foto.
Geschichten versetzen uns innerlich in Aktion, erklärt Elisabeth Wehling.© picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt
"Alles, was wir denken, denken wir mit dem Gehirn, und das Gehirn ist angebunden an unsere Körper", erklärt sie. "Deshalb schöpft das Gehirn, wenn es denken will, aus all den körperlichen Erfahrungen, die es abspeichern konnte vorher in unserem Leben. Dazu gehören Gefühle, visuelles Input, Gerüche, Geräusche, Geschmack, Bewegungen. Und wenn wir zum Beispiel Leute im Gehirnscan liegen haben, und die lesen den Satz: ‚John beißt in das Wurstbrot‘, dann feuert in dem Moment, in dem sie das Verb, das Handlungswort ‚beißen‘ lesen, die Gegend im Gehirn los, die damit zu tun hat, selber zu beißen."

Kind: "Noch eine!"
Großmutter: "Einst lebte ein Straßenräuber im Sherwood-Forest unweit der Stadt Nottingham, als König Heinrich II. England regierte. Sein Name war Robin Hood. Er war der geschickteste Bogenschütze weit und breit."
Philip Jessen von Storymachine: "Da ist natürlich Storytelling der beste Träger, um Geschichten in die Timelines der Leute zu spülen."

Wenn wir in Geschichten etwas sehen, hören oder riechen, versetzt uns das innerlich in Aktion. Auf Wörter, die etwas erzählen, reagiert unser Gehirn so, als würden wir das Erzählte tatsächlich erleben, berichtet Wehling: "Wenn das Gehirn auf so etwas zurückgreifen darf, dann freut sich das Gehirn ungemein. Wieso? Weil es da so richtig aus seiner Welterfahrung schöpfen darf, da hat es richtig viel zum Mitfeuern."

Storytelling, ein Werkzeug für PR

Seien es Youtube-Videos, Podcasts oder TED-Talks: Ohne Storytelling läuft gar nichts mehr. Für den Einstieg gern eine Szene aus der Kindheit oder eine Begegnung von heute Morgen. Im richtigen Moment ein Cliffhanger und dann die Moral von der Geschichte: das Versprechen, die Welt zu ändern – oder zumindest das Leben der Zuschauer.
"Wir saßen bei einem Italiener, die ganzen Gründer zusammen", erzählt Philipp Jessen. "Und wir haben natürlich uns einfach überlegt, was könnte ein passender Name sein, und wir arbeiten ja einerseits datenbasiert aber der Kern ist Storytelling, und so haben wir einfach zwei Worte miteinander verbunden, nämlich das Thema Story und das Thema Maschine, und dann hatten wir den Namen."
Der Journalist Philipp Jessen hat vor drei Jahren "Storymachine" mitgegründet, eine Agentur, die Storytelling gezielt als PR-Instrument einsetzt.
"Ich finde es ganz wichtig, ich sage auch, man muss Herr seines eigenen Narrativs bleiben. Die Möglichkeit habe ich heute, die hatte ich nicht immer. Früher war ich angewiesen auf traditionelle Medien, wenn ich stattfinden wollte, heute habe ich zumindest theoretisch die Möglichkeit, über Social Media Herr meines Narrativs zu bleiben, Geschichten zu erzählen, Leute zu erreichen."
Wer sein Produkt oder sich selbst bekannt machen will, nimmt heute Geschichten als Vehikel: "Wenn ich jemandem eine Geschichte erzähle, und diese Geschichte ist spannend oder sie ist lustig oder sie ist traurig, habe ich natürlich einen ganz anderen Zugang. Die bleibt viel, viel tiefer und viel, viel granularer bei den Menschen haften, als wenn ich einfach nur eine Aussage tätige, und das ist eigentlich der springende Punkt."
Schon das Gebäude in Berlin-Mitte könnte man als Narrativ bezeichnen. In den Zwanzigerjahren war das Haus ein Varietétheater. An vielen Stellen sieht man das nackte Gemäuer, doch die Patina ist ganz von heute: Die alten Malereien, die unter Schichten von Putz und Farbe zum Vorschein kamen, wurden sorgfältigst rekonstruiert. Schon die Eingangslobby macht es geradezu unmöglich, Sein und Schein zu unterscheiden. Die Fadenscheinigkeit von Teppich und Kissen ist in den Stoff eingewebt – Vintage vom Feinsten.

Kind: "Eine letzte! Von einem Helden!"
Großmutter: "Mein Name ist Edward Snowden. Sie halten dieses Buch in Händen, weil ich etwas getan habe, das für einen Mann in meiner Position sehr gefährlich ist: Ich habe beschlossen, die Wahrheit zu sagen."
Elisabeth Wehling, Sprachwissenschaftlerin: "Jedwedes politische Denken findet innerhalb von Frames statt."

Die Idee zu einer solchen Agentur kam genau zur richtigen Zeit: "Storymachine" beschäftigt heute über hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
"Wir haben die eine oder andere Dax-Firma, für die wir arbeiten, wir haben diverse große Mittelständler, Verbände, Einzelpersonen, das kann man nicht einheitlich beantworten", sagt Philipp Jessen. "Was für uns wichtig ist, dass wir mit Leuten arbeiten, die ein Verständnis haben dafür, wie wichtig heute Social Media für eine strategische Kommunikation ist, die verstehen, dass da draußen was Neues passiert, auf das man reagieren muss."

Deutungshoheit über die eigene Geschichte

Was Storymachine den Kunden verspricht, ist die Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Um diese Geschichte zu erschaffen, beschäftigen sich die Mitarbeiter intensiv mit ihren Kunden:
"Wir verbringen viel Zeit mit den Leuten, wir führen Tiefeninterviews, wir gucken ganz genau, wie spricht der, wie tickt der, was treibt ihn an, was ärgert den, was interessiert die Person und so weiter. Daher leiten wir dann einfach Geschichten ab, die für uns, wie ich das immer nenne, ‚Interessanz‘ haben und die vor allem das vermitteln, was derjenige oder diejenige für sich und das Unternehmen erreichen will."
Die Geschichten, die die Storymachine auswirft, begegnen einem dort, wo heute Geschichten erzählt werden, am Bildschirm, etwa auf Facebook, Twitter oder Instagram: "Ich sag dann immer zu Kollegen, die neu anfangen und die nicht den Social-Media-Background haben: Das ist ein wenig so, als würdest du ein Porträt für ein großes Magazin wie den 'Stern' oder den 'Spiegel' schreiben, aber du veröffentlichst jeden Tag nur einen Satz."

Kind: "Eine Allerletzte, von einem armen Jungen, der berühmt wird!"
Großmutter: "Ugur Şahin, geboren in der Türkei, zog im Alter von vier Jahren mit seiner Mutter aus der Türkei zu seinem Vater, der in den Kölner Ford-Werken arbeitete."
Michael Solf, Lexikograf: "Narrativ, das ist immer das, was die anderen erzählen. Aber wir glauben das von uns selber nicht."

Das Storytelling von Storymachine stützt sich auf Daten: Was führt dazu, dass eine Botschaft etwa auf Twitter "trendet"?
"In den sozialen Kanälen ist es natürlich so, je emotionaler eine Geschichte ist, desto mehr verbreitet sie sich organisch", sagt Philipp Jessen. "Für den Fall des Magazins, für das ich mal gearbeitet habe, war es so: Ein trauriger oder ein wütender Smiley hat dafür gesorgt, dass diese Geschichte 10.000 Menschen mehr angezeigt worden ist, weil Facebooks Algorithmus gesagt hat: Diese Geschichte weckt Emotionen, das heißt, die Leute bleiben länger bei mir, wenn sie diese Geschichte lesen, und darum verbreite ich sie weiter."

Die Macht einfacher, archaischer Geschichten

"We will make America great again! Good night, and God bless you! I love you!" Wir alle kennen das Bedürfnis nach der einfachen Geschichte. Populisten wissen, wie man diese Klaviatur bedient. Donald Trump ist mit allen Wassern des modernen Storytellings gewaschen: Mit seinen Twitter-Botschaften aktivierte er uralte Erzählstrukturen. Zum Beispiel David gegen Goliath: der einfache bodenständige Amerikaner gegen die abgehobene weltläufige Elite.
"We are going to Washington D.C. And we are going to drain the swamp!" Dass seine Geschichten mit der Realität oft nichts zu tun haben, spielt keine Rolle. Denn die Ebene der Sachaussage kommt bei seinen Anhängern gar nicht an.
US-Präsident Donald Trump nach einer Rede auf dem Parteitag der Republikaner
Ex-US-Präsident Donald Trump ist mit allen Wassern des modernen Storytellings gewaschen.© imago/David T. Foster
Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun erklärt in "Die Kunst des Miteinander Redens", was die Trump-Wähler hören:
"Auf der Ebene der Beziehungsbotschaft, gerichtet an die Anhängerschaft, sagt er: ‚Ihr seid verraten und verkauft worden – das habt ihr nicht verdient! Ihr habt es verdient, wieder das alte gute und starke Amerika zu repräsentieren, das eure Vorfahren aufgebaut haben!‘ Und auf der Ebene des Appells: ‚Folgt mir, damit alles wieder besser und großartig werden kann! Seht mich an – und ihr seht: Großartigkeit ist möglich, auch und gerade hierzulande!‘"
"Tod und Wiedergeburt, und das ist das Grundmotiv der Heldenreise: Einen Zustand zu verlassen, den Ursprung des Lebens zu finden, und in einem reicheren, reiferen Zustand wieder hervorgebracht zu werden", sagt Joseph Campbell in der Gesprächsreihe "Die Macht der Mythen". Berühmt wurde der amerikanische Mythologe mit seinem Buch "Der Held in den tausend Gestalten".
Campbell beschreibt die mythische Heldenreise als einen Weg mit klar definierten Stationen: Der Held oder die Heldin folgt dem Ruf zum Abenteuer, er oder sie verlässt die vertraute Welt, besteht Abenteuer und kehrt verwandelt zurück zu der eigenen Gemeinschaft. "Das ist die Tat des Helden: Aufbruch, Erfüllung, Rückkehr."

Kind: "Noch eine! Eine, die gut ausgeht!"
Großmutter: "Es ist der 15. Juli 2015, als die Kanzlerin in Rostock mit Schülern diskutiert. Die 15-jährige Palästinenserin Reem erzählt über ihre unklare Bleibeperspektive, ihre Angst vor der Abschiebung. Angela Merkel reagiert kühl. Es könnten nicht alle nach Deutschland kommen, manche müssten zurückgehen."
Alberto Manguel, Schriftsteller: "You cannot not make up stories."
Großmutter: "Knupper, knupper, kneischen, wer knuppert an meinem Häuschen?"
Die Kinder antworteten: "Der Wind, der Wind, das himmlische Kind"

Das Muster der Heldenreise findet sich nicht nur in Märchen, Mythen und Filmen. Campbell beschreibt es als archetypisches Prinzip, das in jedem einzelnen menschlichen Leben realisiert wird. Auch wir vernehmen beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste den Ruf zum Abenteuer, den wir entweder annehmen oder ablehnen.
Joseph Campbell beschreibt die individuelle Heldenreise als Reifungsprozess: "Die Reifung des Individuums: Es ist diese geradezu pädagogische Anleitung, der man folgt, das geht von der Abhängigkeit ins Erwachsensein, dann folgt die Reifung, und dann geht es zum Exit."

Wir erzählen Geschichten, um uns zu verkaufen

Wir erzählen uns Geschichten, nicht nur, um zu leben, sondern um uns selbst zu optimieren und uns zu verkaufen. Wir haben aus dem Storytelling eine Industrie gemacht. Warum ist das Erzählen gerade heute so wichtig geworden? Der Abschied von den Großerzählungen, den François Lyotard diagnostizierte, ist nur einer von vielen Gründen.
Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner nennt einen weiteren: "Da denke ich einfach, dass diese Unsicherheit, die wir erleben, also wir jetzt im Sinne von gesamtgesellschaftlich gerade in den sogenannten besonders entwickelten Industrieländern, wo alles möglich zu sein scheint. Unsicherheit, weil wir zu viele Handlungsoptionen haben, zu viel, gemessen an dem, was unser Gehirn leisten kann. Übertragen auf die Berufswahl, die Partnerwahl, auf die Wahl, wie wir unsere Zeit verbringen, ist unser Gehirn in einem kontinuierlichen Überforderungsmodus. Das heißt, umso stärker, würde ich argumentieren aus Sicht der Neurowissenschaften, Psychologie, sind wir auf der Suche nach Narrativen, die uns Halt geben."
Oder liegt es an der Informationsflut, wie Philipp Jessen von Storymachine vermutet: "Weil es so laut ist, weil es so viele Informationen gibt, weil es so viele Streitereien und öffentliche Diskurse gibt in einer unglaublich erratischen Lautstärke, dass die Leute gar nicht mehr wissen, wo hören sie hin? Und das ist natürlich der Grund, dass eine gut erzählte Geschichte natürlich durchdringt bei der ganzen Lautstärke, die es heutzutage gibt."

"Wir leben in einer verwirrenden Zeit"

Liegt es an der Politik, wie Alberto Manguel glaubt? "Vielleicht ist es tatsächlich so, dass wir uns heute stärker dem Storytelling zuwenden als zu anderen Zeiten. Auf jeden Fall leben wir in einer verwirrenden Zeit. Wir befinden uns wieder mitten in politischem Chaos. Wir dachten, der Faschismus sei ein Ding der Vergangenheit, doch er ist keineswegs vergangen. Die Faschisten erheben wieder ihren Kopf, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nie gegeben. Und wir sind mitten in einer Pandemie. Nichts ist sicher. Wir brauchen Geschichten, um einen Sinn zu finden in einem Universum ohne Sinn."
Geschichten bieten Halt, das zeigt auch der Blick in einen Märchenklassiker.
"Da fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Gretel schüttelte sein Schürzchen aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen."

Autorin: Sieglinde Geisel
Es sprechen: Kornelia Boje, Ilka Teichmüller, Max Urlacher
Ton: Ralf Perz
Regie: Beatrix Ackers
Reaktion: Martin Hartwig

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