Arno Camenisch: "Die Welt"

Zwischen Aufbruch und Ankommen

06:27 Minuten
Cover von Arno Camenischs "Die Welt".
© Diogenes

Arno Camenisch

Die WeltDiogenes, Zürich 2022

138 Seiten

22,00 Euro

Von Ingo Arend · 02.08.2022
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Der Ich-Erzähler in Arno Camenischs "Die Welt" will aus dem gewohnten Leben ausbrechen und reist um die Welt. Das Thema hätte in einen spannenden und antinormativen Text münden können. Stattdessen verliert der Autor sich in Plattitüden.
Ein anderes Leben führen, ausbrechen aus der gewohnten Bahn, alles hinter sich lassen. Derlei Sehnsüchte sind offenbar kein Privileg der männlichen Midlife-Crisis: Der Protagonist in Arno Camenischs neuem Roman ist gerade einmal 23 Jahre alt.
Im Sommer 2001, kurz nach dem ausgebliebenen Milleniums-Crash, steigt der junge Schweizer in ein Flugzeug nach Hongkong. Die „Vorstellung, das Leben bis dreißig bereits durchgeplant zu haben“, schreckt ihn. Kreuz und quer reist er über den Globus. Eines Tages pleite, kehrt er ins schweizerische Chur zurück, hält sein altes Leben aber nicht lange aus und bricht nach einem Jahr wieder in die Ferne auf.

Kreuz und quer über den Globus

Der junge Mann genießt es, unterwegs zu sein und keinen Plan zu haben. Vor allem liebt er das Gefühl, "dass ich nichts musste. Das war befreiend". Die Nebeneffekte nimmt er in Kauf: Einsamkeit und Liebeskummer.
Camenischs „Die Welt“ lässt sich als Gegenentwurf zu den bislang zehn Romanen des 1978 im Kanton Graubünden geborenen Autors lesen. Fast alle spielen in der engen Welt der Schweizer Berge.
Hinter der motivischen Öffnung in „Die Welt“ lässt sich etwas vom Überdruss des Autors am eigenen Leben erahnen, der heute sicher nicht zufällig so alt ist wie sein Ich-Erzähler im Buch. Mittlerweile 44 Jahre alt, lässt dieser seine Weltreisen Revue passieren.
Camenischs Roman hätte ein spannendes, antinormatives Traktat werden können. Ein literarisches Kleinod gegen feste Strukturen, für den Willen zum Wechsel und der Liebe zur großen, weiten Welt.
Doch leider neigt der Ich-Erzähler zu sentimentalen Plattitüden: „Mich interessierte der Mensch, nicht die Sehenswürdigkeit“, beteuert der Globetrotter.
Doch wenn er die wenigen Menschen zeichnet, die für ihn das wahre Leben ausmachen, bleiben diese Schablonen. Wie der alte Mann in Ecuador, dessen „Gesicht mit feinen Falten gezeichnet (ist) wie eine Landkarte“. „Dieser alte Mann hatte alles gesehen. Und das machte ihn jung.“

Menschen statt Sehenswürdigkeiten

Das Gestanzte gilt auch für die geheimnisvolle Amélie, in die er sich zwischen zwei Reisen verliebt. Die Nächte mit ihr in Hotelzimmern, auf Landstraßen und mit Zigaretten Parisienne erinnern an Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in dem Film „Außer Atem“. (*)
„Sie war mir nahe, sie war anders als die Frauen, die ich bisher getroffen hatte, und ich hatte sie gern“: Sehr viel konkreter vermag der Erzähler Amélie nicht zu charakterisieren.
Dafür geizt er nicht mit Allerwelts-Sentenzen. Reisen sei „eine einsame Sache“, lamentiert er. Als er in Südamerika Spanisch zu lernen beginnt, dämmert ihm eine kulturelle Binse: „Die Sprache ist der Schlüssel. Wir brauchen sie. Ohne sie sind wir verloren."
Arno Camenisch kann wunderbar lapidar erzählen, Menschen, Milieus und Momente in bezwingenden Miniaturen verdichten. Kaum einer seiner viel gelobten Romane ist länger als hundert Seiten.
In seinem neuen Werk beschwört er den Lustmoment zwischen „Aufbruch und Ankommen“. Doch ausgerechnet in dieser kreativen Passage bleibt sein melancholischer Held in Floskeln hängen.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben einen Namen korrigiert.
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