Kulturgeschichte

Reisen bildet – oder vielleicht doch nicht?

07:50 Minuten
Ein Gemälde von Goethe in der Campagna, gemalt von Johann Heinrich Tischbein.
Johann Wolfgang von Goethe in Italien: Mit seiner publizierten „Italienischen Reise“ trug er maßgeblich zu einer Verschiebung der touristischen Idee bei. © picture alliance / akg-images
Von Hans von Trotha · 27.07.2022
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„Zu Hause ist es am schönsten“ – das war mal. Eine Rastlosigkeit hat die Menschen erfasst, zumindest die, die in wohlhabenderen Regionen der Welt leben. Ihr Motto lautet „Reisen bildet“. Klingt gut, hat Tradition, aber stimmt das überhaupt?

„Fliegt das Herz dem Verstande voran, so erspart es der Urteilskraft unsägliche Mühe.“

Unter diesem Motto und unter der im Wortsinn epochemachenden Überschrift „A Sentimental Journey“, auf Deutsch „Empfindsame Reise“, hat der Engländer Laurence Sterne im Jahr 1768 die Idee des Reisens vom Kopf aufs Herz umgepolt: vom pragmatischen Instrument des Handels, des Krieges, der Mission und der politischen Bildung zum Quell eines individuell erlebten Lustgefühls auf Abwegen.

Literarische Reisen von Sterne und Goethe

Das war kulturrevolutionär und hat alle europäischen Reisenden beeinflusst, die nach Sterne aufbrachen, fast immer nach Italien. Auch der junge Johann Wolfgang Goethe hatte Sternes „Empfindsame Reise nach Frankreich und Italien“ gelesen, bevor er 1786 selbst Richtung Rom und dann sogar noch weiter bis Neapel aufbrach.
Zu Büchern verarbeitet hat er seine Erlebnisse erst 1813 und 1817, also mit gehörigem zeitlichem, aber auch emotionalem Abstand. Mit seiner publizierten „Italienischen Reise“ hat Goethe maßgeblich zu einer erneuten Verschiebung der touristischen Idee vom empfindsam-anarchischen Lustprinzip zu einem gelebten bürgerlichen Bildungsroman beigetragen, den er unter dem Titel „Wilhelm Meister“ parallel dazu auch gleich ausgearbeitet hat.
Die literarischen Reisen von Sterne und Goethe markieren die Etablierung der Bildungsreise als individuelle Angelegenheit der Vervollkommnung, emotional bei Sterne, kulturell bei Goethe.

Eine Neuausrichtung der Grand Tour

Beide haben uns nachhaltig viel mehr beeinflusst, als uns in der Regel bewusst ist. Und beide haben dazu beigetragen, dass die Institution der Grand Tour eine neue Definition und Ausrichtung erhielt, die sie auch für ein aufstrebendes Bürgertum interessant machte.
Auf das elisabethanische England, also auf die Zeit der Renaissance, geht die Tradition zurück, junge Adelige auf die sprichwörtliche „Grand Tour“ zu schicken. Dass deren Ziel der Norden Italiens war, hatte weder etwas mit der Landschaft zu tun – der Sinn für die Schönheiten der Natur war damals noch nicht geschärft – noch mit einem etwaigen Interesse für Kunstwerke oder andere Kulturgüter.
Norditalien wurde vielmehr angesteuert, weil sich zwischen den Alpen und Rom auf engem Raum zahlreiche unterschiedliche Staatsformen besuchen und studieren ließen, und das weit entfernt von zu Hause.

Ausbildungstour mit mehreren Zwecken

Zweck der Tour war es, künftigen Anwärtern auf politische Ämter Nachhilfe in praktischer Staatskunde zu verschaffen und dabei gleich auch das mit den vorehelichen amourösen Erfahrungen zu erledigen, und zwar so weit weg, dass es den heimischen Heiratsmarkt nicht beeinträchtigte.
Es war also eine pragmatisch auf die Bedürfnisse des britischen Funktionsadels zurechtgeschneiderte Tour. In den epochalen Büchern von Stern und Goethe erhielten diese beiden Funktionen der alten „Grand Tour“, wenn man so will, jeweils ein Eigen- und dann ein Nachleben.

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Die Aufklärung eröffnete im Verlauf des 18. Jahrhunderts Aufstiegswege für Nichtadelige und schuf damit die Grundlage für ein Bürgertum, das sich rasch etablierte und bald Aufgaben übernahm, die zuvor dem Adel vorbehalten gewesen waren. Und so gingen auch die Bürger, zunächst nur eher wenige Bürgerinnen, auf Tour.
Sie brachten eine andere Erziehung, eine andere Bildung, eine andere Ausbildung und in der Folge einen anderen Blick auf die Welt mit, als sie die Alpen überquerten und Rom besichtigten.

Alpenpassage und Romvisite

Die Alpenpassage wurde – buchstäblich en passant – zur Wiege einer Bewunderung der Natur als Landschaft und in der Folge eines Landschaftstourismus. Die Romvisite zum Herz eines bildungsbürgerlichen Programms, wie es Goethe in seinem Leben und in seinen Werken ausbuchstabierte.
So hatte ein neu entstehendes Bildungsbürgertum immer gedruckte Grundlagen als Reiseanleitungen zur Hand, als es den Adel als kulturelle Leitmacht ablöste und sich in anschwellenden Reisegruppen auf Tour begab.
Dabei war es am Ende nicht Sternes sentimentale, ein wenig frivole, nicht wirklich zielgerichtete, sondern Goethes italienische Reise als Blaupause einer universellen bürgerlichen Ausbildung, die als neu definierte Grand Tour das Rückgrat des Tourismus bildete, wie er das 19. Jahrhundert prägte.
Und von dem aus sich im 20. Jahrhundert in Seitenästen und immer feineren Verzweigungen das den Globus allmählich regelrecht einschnürende Netz eines weltumspannenden Massentourismus entwickelte, auf den die Reiserestriktionen des 21. Jahrhunderts endlich, spät, reagieren.
Bei aller Verbreiterung des Reisens als Massenphänomen vom Cluburlaub über die All-inclusive-Experience bis hin zu „Mein-Schiff“-Exzessen und Billigstfliegern ist die ferne Erinnerung an die hehre Bildungsreise zwar verblasst, aber nie verschwunden.

Sinn und Selbstzweck des Unterwegsseins

Jede Bewegung über den Planeten, wie umweltschädlich, wie unnötig sie sein mag, wie lustlos absolviert bisweilen aus Überdruss und Langeweile, scheint durch den Slogan „Reisen bildet“ gerechtfertigt und mit einem höheren Zweck versehen. Und alle zehn Jahre greift man zur Bundeslade des bürgerlichen Tourismus, um sich darin zu bestärken: Dafür kommt Goethes „Italienische Reise“ jedes Jahr in neuen Taschenbuchausgaben günstig auf den Markt.
Schon im späten 18. Jahrhundert fiel reisenden und lesenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf, dass sich nicht nur Landschaftsdarstellungen und Landschaftsbeschreibungen stets ähnelten, sondern auch die damit in Verbindung gebrachten Gefühle und Gedanken. Das Reisen erfolgte immer in Mustern. Denn das gewährt Sicherheit in der unwägbaren Unendlichkeit, die die zu bereisende Welt theoretisch bereithält.
Nur den wenigsten scheint es vergönnt, und nur wenige halten es am Ende aus, wirklich individuell auf Fahrt zu gehen. Die meisten reisen lieber hinterher. Auf diese Weise bekommt das Unterwegssein als solches einen Sinn und also auch so etwas wie einen Zweck, weil es ein Ziel hat. Damit ist die Reise für uns selbst von uns selbst vor uns selbst gerechtfertigt und sozusagen genehmigt.
Laurence Sterne hatte mit seiner „Empfindsamen Reise“, der „Sentimental Journey“, das Projekt einer Reise ohne Zweck und ohne Ziel aufgesetzt. „Ich denke“, schreibt Sterne unterwegs, „es waltet in Verhängnis dabei – ich gelange selten dahin, wohin ich eigentlich will.“

„Der Wechsel des Blickwinkels“

Virginia Woolf hat es im Rückblick so charakterisiert:

„Der Wechsel des Blickwinkels war für sich schon eine Neuerung. Bis dahin hatte der Reisende gewisse Gesetze der Proportion und der Perspektive beachtet. Die Kathedrale war in allen Reiseführern ein riesiges Gebäude, der Mensch daneben eine kleine, eine angemessen zwergenhafte Figur. Sterne hat es fertiggebracht, die Kathedrale gleich ganz wegzulassen. Ein Mädchen mit einem grünen Satinbeutel ist womöglich viel wichtiger als Notre-Dame.“

Ein derart individualistisch empfindsames Reisen wurde von einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft schnell kassiert. Statt uns reisend immer mal wieder darauf zu besinnen, haben wir uns angewöhnt, auch noch den hedonistischsten Strand- oder Ski-Ausflug mit dem Label „Reisen bildet“ zu rechtfertigen.
Aber Reisen als solches bildet überhaupt nicht und hat auch noch nie gebildet. Es sind höchstens wir, die uns auf Reisen bilden – wozu, das müssen wir selbst entscheiden, herausfinden oder bestimmen – erst recht, wenn wir feststellen, dass wir auf unserer Route wieder einmal anderen hinterherfahren.
Schon Goethe war übrigens skeptisch, ob alle, die sich auf den Weg machen, dabei auch wirklich etwas mitbekommen, als er schrieb:

„Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen.“

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