"Die Wahrheit über die Welt ist manchmal schwer zu verkraften"

19.07.2007
In seinem neuen Roman "Reisen im Skriptorium", das am 20. Juli auf Deutsch erscheint, hat der amerikanische Schriftsteller die wichtigsten Figuren seiner Werke vereint. Eine Geschichte in der Geschichte liest sich als Abrechnung mit der aktuellen Politik der USA. Für ein Exklusiv-Interview traf Deutschlandradio Kultur Paul Auster in seinem Haus in New York.
Marie Sagenschneider: Es hat lang gedauert, bis sich Paul Auster als Schriftsteller durchgesetzt hatte. Die Anfänge waren eher mühsam. Seine ersten Veröffentlichungen fanden wenig Anerkennung. Über Jahre hat er sich mit Lehraufträgen über Wasser gehalten und mit Übersetzungen von Werken französischer Autoren. Erst vor rund 20 Jahren gelang ihm der Durchbruch und gleich ein Bestseller mit der "New York-Trilogie", ein Großstadtroman in drei Bänden, die längst Kult sind und damals Mitte der 80er Jahre in einem kalifornischen Kleinverlag herauskamen, der sich heute noch freuen dürfte. 17 amerikanische Großverlage hatten zuvor die Manuskripte abgelehnt. Seitdem hat Paul Auster geschrieben und veröffentlicht wie ein Wilder – Romane und Erzählungen, die zuweilen von der Kritik auch sehr ungnädig aufgenommen wurden. Aber, es steht außer Frage, dass Paul Auster zu den wichtigsten amerikanischen Gegenwartsschriftstellern zählt. Im Februar ist Paul Auster 60 Jahre alt geworden und hat ein neues Buch herausgebracht, das morgen auch auf Deutsch erscheint: "Reisen im Skriptorium". Es handelt von Mr. Blank. Mr. Blank, der sein Zimmer nie verlässt, aus Angst vor dem, was ihn draußen vor der Tür erwartet. Auch Paul Auster wollte sein Zimmer nicht verlassen, als mein Kollege Tobias Wenzel vor einem Monat in dessen New Yorker Haus war, um Paul Austers Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, zu interviewen. Aber in der vergangenen Woche hat es dann doch geklappt. Paul Auster hat Tobias Wenzel empfangen und der hat ihn gleich gefragt, wie Paul Auster denn auf die Geschichte von Mr. Blank gekommen ist, der ja den ganzen Tag orientierungslos in seinem kargen Zimmer sitzt.

Paul Auster: Dieses Buch begann mit einem Bild. Ich weiß nicht, woher dieses Bild stammt, aber eines Tages wachte ich auf und sah einen alten Mann, der auf der Bettkante sitzt, einen Schlafanzug und Pantoffeln trägt, dessen Hände auf den Knien ruhen und der auf den Fußboden starrt. Von diesem Moment an kam dieses Bild immer wieder, Tag für Tag. Schließlich wollte ich wissen, was es damit auf sich hatte. Also habe ich blind drauflos geschrieben, ohne zu wissen, was ich tat. Irgendwann wurde mir eines klar: Wenn das Bild etwas zu bedeuten hatte, dann, dass ich mich selbst in der Zukunft sah, als 20 Jahre älteren Mann. Diese Entdeckung ermöglichte letztlich den Roman.

Tobias Wenzel: Im Roman heißt es an einer Stelle: "Das Wort alt ist ein dehnbarer Begriff". Fühlen Sie sich denn alt?

Auster: Ich habe geschrieben, alt ist man zwischen 60 und 100 Jahren. Ich wollte also Mr. Blank kein exaktes Alter geben. Aber vorgestellt habe ich ihn mir als ungefähr 80-Jährigen. Fühle ich mich selbst alt? Na ja, ich falle schon in diese Kategorie, weil ich ja vor wenigen Monaten 60 geworden bin. Aber ehrlich gesagt, fühle ich mich sehr gut, jung und agil. Eigentlich genauso, wie ich mich fühlte, als ich noch etwas jünger war.

Wenzel: Nach der Lektüre Ihres neuen Romans habe ich gleich fünf weitere Romane gelesen. Können Sie sich vorstellen, warum?

Auster: Ich habe da so eine Ahnung. Aber sagen Sie es mir.

Wenzel: Na, weil in "Reisen im Skriptorium" viele Ihrer alten Romanfiguren wieder auftauchen. Also, da ist zum Beispiel Anna Blume, da ist der Anwalt Daniel Quinn, Peter Stillman junior und senior, Fanshawe, alle aus der "New York-Trilogie", Benjamin Sachs aus "Leviathan", viele andere auch noch. Warum all diese altbekannten Figuren in Ihrem neuen Roman?

Auster: Na ja, ich denke, es ist so gekommen, weil Mr. Blank hier eine Projektion meiner selbst ist. Also musste ich selbst in das Buch einbezogen werden. Vielleicht nicht mit meinem eigenen Leben, aber doch mit meinem Werk. Alle Romanfiguren kamen von ganz allein. Dies ist ein sehr unbewusster Roman. Sie kamen auf mich zu und ich ließ sie einfach gewähren. Als Autor hat man eine sehr intime Beziehung mit diesen Wesen der Fantasie. In gewisser Weise werden Romanfiguren so real wie die realen Personen im Leben des Autors. Eine ganz besonders wichtige Figur für mich ist Anna Blume. Sie hat mich schon so lange begleitet. Zum ersten Mal kam sie mir in den Sinn, als ich 21 Jahre alt war, als ich "Im Land der letzten Dinge" schrieb. Also vor vielen, vielen Jahren. Von all meinen Romanfiguren ist sie diejenige, die mir am meisten ans Herz gewachsen ist.

Wenzel: Mr. Blank denkt ja darüber nach, ob er schuldig ist, weil er Menschen in gefährliche Abenteuer geschickt hat. Fühlen Sie sich auch etwas schuldig, weil Sie Ihre Romanfiguren regelrecht ins Leben werfen, weil Sie sie Gefahren aussetzen und manchmal sogar sterben lassen?

Auster: Nein, ich fühle mich überhaut nicht schuldig. Schließlich weiß ich ja, dass es sich um Romane handelt. Allerdings ist es ein riskantes Unterfangen. Schreiben ist mehr als nur Spaß und Spiel. Es ist eine moralische, philosophische und künstlerische Herausforderung. Man erschafft etwas, aber will gleichzeitig die Wahrheit schreiben. Und die Wahrheit über die Welt ist manchmal schwer zu verkraften. Schreiben kann richtig schmerzhaft sein. Ich fühle mich also nicht schuldig, wenn ich schreibe, aber dafür fühle ich mich sehr häufig wachgerüttelt.

Wenzel: Es gibt eine Geschichte in der Geschichte in Ihrem neuen Roman über die sogenannte Konföderation. Für mich eine klare Anspielung an die USA, vielleicht auch eine Abrechnung mit den USA. Was fühlen Sie, wenn Sie an die US-Politik denken?

Auster: Ich war schon immer wütend auf die US-Politik und unzufrieden mit ihr. Aber seit George Bush an der Macht ist, bin ich regelrecht außer mir vor Wut. Ich glaube wirklich, dass wir uns gerade selbst zerstören. Wir laufen mit offenen Augen in unser Unglück. Wie kann es sein, dass wir immer noch diesen unglaublich sinnlosen Krieg im Irak führen und das schon seit mehr als vier Jahren? Das ist länger, als die USA im zweiten Weltkrieg kämpften. Das muss man sich einmal klar machen. Wir haben die Verfassung untergraben. Wir haben so viele Dinge getan, die ein vernünftiger Mensch nicht machen würde, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos bin. Wir dürfen nicht vergessen, dass Amerika letztlich seine Macht errungen hat, weil es die Einheimischen vertrieben und afrikanische Menschen versklavt hat. Diese zwei Verbrechen sollten wir uns vor Augen führen, anstatt zu glauben, wir seien bessere Menschen als andere. Der Mythos der Amerikaner ist, wir seien das auserwählte Volk und seien fehlerlos. Aber wir machen einiges falsch und heute mehr denn je.

Wenzel: Und wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland?

Auster: Ich war sehr oft in Deutschland und habe dort einige sehr enge Freunde – Wim Wenders und Michael Naumann zum Beispiel. Deutschland erzeugt in mir natürlich gemischte Gefühle wegen der deutschen Vergangenheit. Aber das heutige Deutschland scheint mir ein sehr gutes Land zu sein. Mein lieber Freund, der Künstler Art Spiegelman, und ich sagen manchmal im Scherz, dass wir auswandern, weil wir so unglücklich über die US-Politik sind. Und wir fragen uns dann, in welches Land sollen wir emigrieren? Und unsere Antwort ist dann: Vielleicht ist Deutschland ein geeigneter Ort. Da sehen Sie, wie sich die Welt im Laufe der Jahre verändert hat.

Wenzel: Ihr Roman heißt ja nicht umsonst "Reisen im Skriptorium". Mr. Blank reist gedanklich in seine Vergangenheit. Er sitzt auf seinem Schreibtischstuhl und fährt damit durch sein Zimmer und denkt dabei an seine Kindheit, an sein Schaukelpferd Whitey. Wie versetzen Sie sich zurück in Ihre Kindheit?

Auster: Es bewegt mich noch immer, wenn ich daran denke, wie im Jahre 1979 mein 85-jähriger Großvater im Sterben lag. Ich besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus. Er wollte damals nur über seine frühe Kindheit sprechen. Und was meine Erinnerung betrifft: Ich hatte selbst ein Schaukelpferd namens Whitey. Es war ein Pferd aus Metall mit Rädern unter den Hufen. Wenn man die Füße gegen die zwei Metallstangen drückte, trieb das die Räder an. So reiste ich unaufhörlich mit meinem Pferd Whitey durch die Wohnung. Whitey war einige Jahre lang ein wichtiger Teil meines Lebens.

Wenzel: Mr. Blank ist ja regelrecht fasziniert von einigen Gegenständen, ganz besonders von seinem Schreibtischstuhl. Welche Gegenstände üben auf Sie einen ganz besonderen Reiz aus?

Auster: Ich selbst hänge nicht besonders an Gegenständen. Je älter ich werde, desto mehr werde ich zum Nichtkonsumenten. Der Konsum interessiert mich nicht. Denn überhaupt besitzen einige wenige Dinge einen sentimentalen Wert für mich. Zum Beispiel der Baseballhandschuh, der meinem Vater als Kind gehörte. Dieses alte Stück Leder bedeutet mir etwas und berührt mich. Und ich hänge an meiner Schreibmaschine, weil ich seit mehr als 40 Jahren meine Texte auf ihr geschrieben habe. Sie hat einiges gemeinsam mit mir erlebt, sie ist mein Freund. Aber das war dann schon alles. Alle anderen Gegenstände gehen irgendwann kaputt oder nutzen sich ab. Kleidung, Stifte, Autos, Waschmaschinen, Toaster – alles nutzt sich ab. Deshalb fällt es mir schwer, an solchen Dingen zu hängen.

Wenzel: Ist das nicht seltsam: Jetzt im Alter interessieren Sie sich überhaupt nicht für Luxusgüter und früher, als Sie jung waren, konnten Sie sich diese Dinge überhaupt nicht leisten. Haben Sie sich denn damals nie nach solchen Dingen gesehnt, zum Beispiel als Sie in Frankreich waren und geradezu von der Hand in den Mund gelebt haben?

Auster: Nein, auch dort nicht. Ich ging ja im Frühjahr 1971 nach Paris und blieb dreieinhalb Jahre in Frankreich. Ich wollte damals nur genug Geld haben, um mir Essen kaufen zu können. Ich brauchte Essen und einen warmen Mantel, mehr nicht. Ich wollte keine Luxusartikel oder so. Bücher und Schallplatten waren die einzigen Dinge, die ich damals kaufte. Und so ist es heute noch. Bücher und Musik.

Wenzel: Ihre Tochter, Sophie Auster, macht ja Musik. Als sie in Deutschland war und ihre CD vorgestellt hat, da haben viele gedacht "na, gucken wir sie uns doch mal an, die Tochter von Paul Auster und Siri Hustvedt", aber eben nicht die Sängerin. Haben Sie nie gedacht, dass es ein Problem für Ihre Tochter sein könnte, so einen berühmten Namen zu tragen?

Auster: Nein, Sophie ist eine wundervolle Person. Siri und ich sind sehr glücklich mit ihr. Sophies Talent ist außerordentlich. Sie ist gerade erst 20 Jahre alt geworden, sie hat in meinem neuen Film mitgespielt und war unglaublich. Ihre neue CD, an der sie gerade arbeitet, wird toll werden. Ich habe schon einige Lieder daraus gehört. Ich glaube, dass in fünf oder zehn Jahren die Leute sagen werden "ah, Paul Auster ist Sophie Austers Vater". So werden sich die Menschen wahrscheinlich noch an mich erinnern.
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