Die Wahrheit ist Ansichtssache

08.04.2010
Der polnische Journalist und Autor Ryszard Kapuscinski gilt als "Reporter des Jahrhunderts", seine Reportagen aus Afrika und der Dritten Welt sind legendär. Auch wenn er es nachgewiesenermaßen mit der Wahrheit nicht immer genau nahm - seine Geschichten gelten heute noch als "Ein Paradies für Ethnographen".
Diese Proletarier entsprechen wahrlich nicht der offiziellen Vorstellung von der herrschenden Klasse in einem sozialistischen Land. Es sind Wanderarbeiter, die von Baustelle zu Baustelle ziehen, ihr Bett im Wohnheim aufgeben, sobald sie hören, dass sich 100 Kilometer weiter etwas Besseres ergeben könnte. Ruhelos, allen traditionellen Milieus entfremdet, stören sie die Harmonie im Betrieb und die Ruhe der Stadt, in der sie sich gerade aufhalten.

Allseits urteilt man schlecht über sie, und sie scheren sich nicht darum. "Ganz unten" heißt die Geschichte des polnischen Schriftstellers Ryszard Kapuścinski.

Kapuścinski, der 1932 im weißrussischen Pinsk zur Welt kam und 2007 in Warschau starb, erwarb sich bereits zu Lebzeiten den Ehrentitel "Reporter des Jahrhunderts". Nun hat der Eichborn Verlag 17 seiner frühen Reportagen unter dem Titel "Ein Paradies für Ethnographen" auf Deutsch veröffentlicht. Es geht um den polnischen Alltag der späten 50er- und frühen 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts – also um eine Zeit nach Ende der stalinistischen Ära, die unter der Führung von Władysław Gomułka von einer relativen Liberalisierung des Regimes geprägt war, von einer zeitweiligen Lockerung der Zensur sowie von einem hier und da aufkeimenden bescheidenen Wohlstand.

Den jungen Kapuściński, der damals für die Zeitschrift "Polityka", das Flaggschiff der kommunistischen Reformer, schrieb, interessierten vor allem Menschen, die an den Anforderungen des Lebens scheitern oder dagegen aufbegehren, Protagonisten mit nicht selten skurrilen Zügen. Zwei Frauen deutscher Herkunft fliehen aus einem Altersheim in Masuren und fordern ihren früheren Besitz zurück. Kleinstadtkatholiken machen Jagd auf eine schöne fremde Frau, die in der örtlichen Kirche als Madonna abgebildet werden soll. Verkrachte Studenten leben illegal in Wohnheimen und philosophieren über das Los der Welt. Ein Lehrer verliert den Kontakt zu seinen Schülern und gehört mit Mitte 20 bereits zum "alten Eisen."

Die meisten Texte der 1962 erstmals als Buch veröffentlichten Sammlung entstanden, bevor Ryszard Kapuściński seine Arbeit als Auslandsreporter des kommunistischen Polens in Asien, Afrika und Lateinamerika aufnahm und zum hochgeschätzten Dokumentarschriftsteller und viel gerühmten Chronisten der sogenannten Dritten Welt wurde.

Im März 2010 erschien in Polen eine Biographie Kapuścińskis aus der Feder seines Schülers, des Reportageschriftstellers Artur Domosławski. Dieses Buch hat mit seinen zahlreichen kritischen Betrachtungen eine Art Denkmalsturz ausgelöst, andererseits den durch seine allumfassende Verehrung bereits etwas entrückten Autor wieder zu neuem Leben erweckt. Eine der Kritiken Domosławskis zielt darauf, dass es Kapuściński mit der journalistischen Wahrheit nicht immer genau nahm. Ein Grund mehr, auch dessen frühe, nun auf Deutsch vorliegenden Reportagen weniger als Zeugnisse der Dokumentarliteratur zu lesen, denn als spannend erzählte Geschichten aus einer geografisch nahen, mitunter exotisch anmutenden Welt.

Besprochen von Martin Sander

Ryszard Kapuściński: Ein Paradies für Ethnographen. Polnische Geschichten
Aus dem Polnischen von Martin Pollack und Renate Schmidtgall
Mit einem Vorwort von Martin Pollack
Eichborn Verlag, Frankfurt 2010
175 Seiten, 16,95 Euro
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