Die waffenklirrende Germania

10.09.2012
Der deutsche imperiale Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts hat viele Vorläufer. Jost Hermand entfaltet in klarer Diktion die Hintergründe und treibenden Momente dessen, worin sich nationale Bestrebungen äußern, woher ihre Fürsprecher und Unterstützer kommen.
Jost Hermand hat ein erhellendes Buch geschrieben. Jeder erwachsene Deutsche, sesshaft im nun vereinigten, erstarkten, durch vielerlei migrantische Kulturen reicher gewordenen Deutschland, sollte es lesen und über sich selbst und seine nationale, gesellschaftliche Herkunft nachdenken. Und fragen, wo er herkommt, was seine Vorväter bewegt hat. Man begegnet dabei nationalen Liedern, die anfangs nach Freiheit und Unabhängigkeit verlangten, um später den nationalistischen Parolen derer zu folgen, die sich deutsche Eliten nannten und die fatale deutsche Selbstüberhebung zu verantworten haben, die zu imperialen Kriegen führten – und schließlich in die Katastrophe.

Der deutsche imperiale Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, aus dem diese katastrophale Geschichte kommt, hat viele Vorläufer. In zentralen Kapiteln zeigt das Buch zum Beispiel: Was das "Dritte Reich" an Nationalismus postulierte – "Deutscher Ruhm und deutsche Ehre", "Heim ins Reich", "Volksgemeinschaft", "Volk ohne Raum", "Blut und Boden" – entstand geschichtlich teils lange davor. Nichts davon hat der NS-Staat selbst erfunden.

Jost Hermand schlägt große Bögen, eine wechselvolle Geschichte liegt diesem politischen Gebilde, das "Nationalismus" genannt wird, zugrunde. Oft mit dem Diktum umschrieben: "Bewundert viel und viel gescholten, schwankte sein Bild durch die Jahrhunderte." Ob nun als Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, als Land der Glaubensspaltung durch Luther, als Territorium der Kleinstaaterei, als Ursprungsland des Idealismus, der Aufklärung und des Marxismus, als waffenklirrende Germania des Zweiten Kaiserreichs, als sämtliche Nationalismen bewahrende Weimarer Republik, als irrwitzigen arischen Weltmachtgelüsten Raum gebender NS-Staat, als geteiltes Land des Kalten Kriegs und der Einigungsvorgänge danach: Jede dieser geschichtlichen Phasen kenne ihren spezifischen Nationalismus, so Hermand, und habe Neid und Abscheu, auch Bewunderung hervorgerufen.

Die Hauptthese des Buches lautet folglich: Es wäre unsinnig, von einer "deutschen Nation" schlechthin, einem "deutschen Volk" oder einer anderen, angeblich identitätsstiftenden Qualifikation im Hinblick auf "die Deutschen" zu sprechen. "Wer immer in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Nation’ gebraucht, sollte deshalb nie vergessen, diesen höchst abstrakten Begriff mit einem erläuternden Zusatz zu versehen, um ihn somit politisch, sozioökonomisch oder kulturell zu konkretisieren, statt sich mit völkerpsychologischen oder journalistischen Klischees zu begnügen."

Hermand entfaltet in klarer Diktion die Hintergründe und treibenden Momente dessen, worin sich nationale Bestrebungen äußern, woher ihre Fürsprecher und Unterstützer kommen, was sie im Schilde führen und welche Wirkungen sie zeitigten. Immer wieder pocht der Autor darauf, die höchst verschiedenen Formen des deutschen Nationalismus zu beachten und nicht lediglich von einem "deutschen Sonderweg" oder einer "verspäteten Nation" zu sprechen. Am Ende der hochinstruktiven Schrift mahnt er zurecht: "Wenn so große Worte wie ‚unser Land’ oder ‚unsere Nation’ in den Mund genommen werden, sollte man sich hüten, darunter etwas von vornherein Positives zu sehen."

Besprochen von Stefan Amzoll

Jost Hermand: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus
Böhlau Verlag, Köln Weimar Wien 2012
390 Seiten, 34,90 Euro
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