Gewolltes Nichtwissen

Die Vorzüge der Ignoranz

38:32 Minuten
Das oft zitierte alte indische Sprichwort "'Nichts Böses hören, nichts Böses sehen, nichts Böses sagen"  gestenreich interpretiert von den Schimpansen Yindi, Uschi und Buta (v.l.n.r.) im Zoo Frankfurt 1958.
Gespielte Ignoranz: "'Nichts Böses hören, nichts Böses sehen, nichts Böses sagen" gestenreich interpretiert von den Schimpansen Yindi, Uschi und Buta (v.l.n.r.) im Zoo Frankfurt 1958. © getty images / Bettmann Archive
Ralph Hertwig und Nadja El Kassar im Gespräch mit Catherine Newmark · 28.11.2021
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Der Mensch sei im Grunde wissbegierig, so lautet ein philosophischer Gemeinplatz – doch tatsächlich ist das Nichtwissen eher der Normalfall. In vielen Fällen kann die Ignoranz sogar gewollt und vernünftig sein.
Der Mensch sei vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er nach Wissen strebe, so lautet eine weitverbreitete Überzeugung in der Philosophie. Wie aber ist das damit zu vereinbaren, dass wir in vielen Situationen etwas ganz und gar nicht wissen wollen? Etwa, wer in der nächsten Folge unserer Lieblingsserie stirbt, die wir noch nicht gesehen haben?

Nichtwissen in der Philosophie eher unterbelichtet

Dass das Nichtwissen – trotz des berühmten Sokrates-Spruchs über die Grenzen seines Wissens – in der Philosophie (und speziell der Erkenntnistheorie) lange eher unterbelichtet war, hat verschiedene Gründe, sagt die Philosophin Nadja El Kassar: Unter anderem sei die Grundannahme meist, „dass das Nichtwissen einfach nicht so eine große Rolle spielen sollte, weil das Wissen für Philosophinnen und Philosophen anstrebbarer ist“. Eine der Ausnahmen sei Friedrich Nietzsche, der ganz unzeitgemäß schon im 19. Jahrhundert fragte, ob nicht Unwissen für ein gelingendes Leben viel dienlicher sei als Wissen.
Eine Frau in dunkler Kleidung, mit hochgestecktem braunem Haar und Brille steht vor einer Steinmauer, den Kopf leicht schräg gehalten, und lächelt freundlich in die Kamera.
Die Philosophin Nadja El Kassar ist derzeit Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin.© Michael Fuchs
Was bei Nietzsche eher eine Intuition ist, wird heute unter anderem durch die Psychologie empirisch erforscht, etwa am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Psychologe Ralph Hertwig hat gemeinsam mit einem Kollegen zuletzt einen ganzen Sammelband über „gewolltes Nichtwissen“ veröffentlicht. „Es gibt viele Bereiche, in denen wir bestimmte Dinge nicht wissen wollen – aus manchmal schwer nachvollziehbaren oder auch irrationalen Gründen. Es gibt aber auch viele Beispiele, wo wir aus sehr rationalen Gründen bestimmte Dinge nicht wissen wollen.“

Nichtwissen kann vernünftig sein

Rational erscheint das Nichtwissenwollen, wenn man die Funktionen berücksichtigt, die es erfüllen kann: Neben unserem Vergnügen an der Ungewissheit, etwa im Fall des erwähnten "Spoiler-Alarms", nennt Hertwig insbesondere die "Emotionsregulierung". Ein Beispiel dafür sind genetische Untersuchungen auf die Anfälligkeit für tödliche vererbbare Krankheiten wie Corea Huntington: Dort könne ein Gentest Klarheit schaffen, ob ein Mensch daran erkranken werde oder nicht. In den meisten Fällen würden sich aber Angehörige der Risikogruppe gegen einen solchen Test entscheiden – einfach, weil die psychische Belastung durch ein solches Wissen für sich selbst und die Angehörigen den möglichen Nutzen überwiegt.
Ein bebrillter Mann in blauem Hemd, mit grauem Haar und Baart lächelt freundlich in die Kamera.
Der Psychologe Ralph Hertwig ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.© Arne Sattler/MPI Berlin
Nichtwissen kann auch gezielt strategisch sein: etwa im Fall von Fleischliebhaberinnen, die sich nicht mit dem Leid der Massentierhaltung konfrontieren wollen oder im Fall von Entscheidungsträgern, die sich vor juristischen Konsequenzen schützen wollen, wie es beim Dieselskandal gegeben sein könne, so Hertwig.

Kritisches Ignorieren gegen Fake News

Und: Selektion von Wissen, also aktiv zu wählen, was man wissen will, sei gerade heute, in Zeiten einer Schwemme von Fake News, notwendig. Hertwig spricht hier von der Fähigkeit des „kritischen Ignorierens“: Das kritische Denken reiche da nicht, denn es tappe, in der Beschäftigung mit den manipulativen Falschinformationen, oft schon in deren Falle. „Kritisches Ignorieren bedeutet dagegen, zunächst zu überlegen: Verdient es dieser Inhalt überhaupt, dass ich ihm Aufmerksamkeit schenke.“ Das bestätigt, so El Kassar, eine Vermutung, die vor Jahren schon der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß geäußert hat: In einer Wissensgesellschaft sei gerade der Umgang mit dem Nichtwissen entscheidend.
Dazu gehört auch, sich das eigene Nichtwissen nicht nur im Allgemeinen – das ist leicht –, sondern auch im einzelnen Fall einzugestehen, sagt Nadja El Kassar. Ob das gelingt, hänge vor allem von der Reaktion anderer Menschen darauf ab. Und dass wir gesellschaftlich anerkennen, dass Nichtwissen durchaus funktional sein kann, und „viele positive Aspekte“ hat, ergänzt Ralph Hertwig: „Wenn Nichtwissen nicht nur eine negative Konnotation hätte, würde uns vielleicht auch das Zugeben leichter fallen.“
(ch)

Literaturhinweise:

Ralph Hertwig und Christoph Engel (Hrg.): “Deliberate ignorance: Choosing not to know”
MIT Press 2020
396 Seiten, 45 Dollar
Die Aufsätze des Sammelbandes sind im Internet frei zugänglich.

Nadja El Kassar: “What Is Ignorance and How Should We Rationally Deal with It?”
Habilitationsschrift, ETH Zürich, 2019

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