Kunst und Zerstörung

Die vielen Freiheiten des Genies

Klaus Kinski und Isabelle Adjani im Film "Nosferatu - Phantom der Nacht" (1979)
Mit den Genies in der Kunst verhält es sich wie mit den Blutsaugern: Ihre Opfer sind oft Frauen. © imago images / KHARBINE-TAPABOR
Ein Einwurf von Jasamin Ulfat-Seddiqzai · 20.06.2023
In den Künsten inszenieren sich Männer gern als Genies, die Opfer bringen - nur sind die Opfer dann häufig Frauen. Es ist Zeit, diesen Kult zu hinterfragen und den Missbrauch zu beenden, fordert unsere Kommentatorin.
Auch wer nichts von Kunst versteht, weiß zumindest eins: Kunst will Grenzen durchbrechen. Dabei kann es sich um Grenzen der Tradition, des Genres oder des guten Geschmacks handeln. Oder um die Grenzen der Legalität. Und das muss nicht immer etwas Schlechtes sein.
Grenzüberschreitungen können helfen, Altes zu hinterfragen und Gesellschaften zu modernisieren. Häufig sind es Künstler, die mit ihren Tabubrüchen Wegbereiter für gesellschaftlichen Fortschritt werden. Die sich gegen fragwürdige moralische Vorstellungen ihrer Zeit stellen und dafür mit der eigenen Freiheit, manchmal sogar mit dem eigenen Leben bezahlen.
Ein bekanntes Beispiel ist der Schriftsteller Oscar Wilde, dessen Extravaganz – damals eine Chiffre für Homosexualität – ihn immer wieder zur Zielscheibe gesellschaftlicher Verunglimpfung machte. Seine homosexuellen Affären brachten ihn schließlich ins Gefängnis, auch weil er sich weigerte, wegen seiner „Verbrechen“ vor der Justiz zu fliehen. Er starb mit nur 46 Jahren, zwei Jahre nachdem er wieder in Freiheit kam. Heute feiern wir ihn nicht nur für seine Literatur, sondern auch für seine Grenzüberschreitung. Er hatte das getan, was wir von Künstlern erwarten.

Die Opfer von Künstlern

Auch andere Künstler zeichnen sich durch Grenzüberschreitungen aus. Doch während Wilde sich gegen das System stellte, machten andere Künstler Menschen zu Opfern, die sich kaum wehren konnten. Van Gogh richtete seine Aggression noch gegen sich selbst, andere Künstler jedoch griffen Schwächere an. Oft waren die Opfer dieser Aggressionen junge Frauen.
Klaus Kinski zum Beispiel, bekannt als der „Berserker der Filmwelt“ sprach im Fernsehen offen über seine Missbrauchsfantasien. Erst viele Jahre später erzählte seine Tochter einer völlig erstaunten Öffentlichkeit, dass der Missbrauch real war, seine Ekel-Persona alles andere als gespielt.
Weil viele Künstler sich als starke, schöpferische Kraft verstanden, sahen sie auf das vermeintlich Schwache herunter. Hass, Missbrauch und Gewalt übten viele „große“ Männer aus. Der Kindesmissbrauch des Architekten Alfred Loos aus den 1920er-Jahren wird erst heute aufgearbeitet, bei Michael Jackson klammern wir uns daran, dass man ihm den Missbrauch nie beweisen konnte.
Den Regisseur Roman Polanski schützt man immer noch aktiv vor Strafverfolgung. Musiker wie Iggy Pop, Mick Jagger und David Bowie hatten Affären mit Mädchen, die so jung waren, dass man sie „Baby Groupies“ nannte.

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Und jetzt sprechen wir also über Till Lindemann, dessen Vergewaltigungsgedichte wir so übertrieben fanden, dass sie ja erfunden sein mussten! Oder doch nicht? Meinte er das die ganze Zeit etwa ernst?

Männer dürfen Künstler, Frauen müssen Kunst sein

Es scheint paradox, dass Künstler ihre Straftaten nicht hinter einem Saubermann-, sondern gerade hinter einem Rüpel-Image so gut verstecken können. Denn irgendwie gehört das Gewalttätige dazu, das Zerstören von Grenzen, von Gegenständen – und wohl auch von anderen Menschen. Das Weltbild, welches diesem Mechanismus zugrunde liegt, sieht den Mann als Schöpfer, die Frau aber als Muse. Während Männer Künstler sein dürfen, müssen Frauen Kunst sein. Und Kunst wird bearbeitet, geformt, zerstört und wieder neu geschaffen.
Wer also mehr Schutz für Frauen fordert, macht diesen Künstlern das Geschäft kaputt. Denn hier ist Missbrauch kein Fehler im System, es ist das System. Was ist schon die Sicherheit durchschnittlicher Frauen gegen das ungebändigte Genie eines schöpferischen Mannes? Wenn sich an diesem Kunstbild nichts ändert, wird auch der Missbrauch weiter zur Norm gehören. Und dann wird die eigentlich so wichtige Grenzüberschreitung der Kunst, die so viel Gutes bringen kann, weiterhin als Ausrede herhalten müssen für Männer, die nur dann groß sind, wenn sie andere zu Boden drücken.
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