Die ungelöste Judenfrage

Essay von H. M. Broder |
Vor 6o Jahren beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung des britischen Mandatsgebietes westlich des Jordan in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Damit begann ein Konflikt, der in vielerlei Hinsicht einzigartig ist. Nicht nur, weil er langlebiger ist als jede andere Auseinandersetzung, bei der es um die Aufteilung eines Landes oder die Verteilung von Ressourcen geht, sondern vor allem deswegen, weil seine historische Dimension so gewaltig ist.
Es gab immer eine jüdische Präsenz in Palästina - gläubige Juden, die im Gelobten Land leben und in heiliger Erde begraben werden wollten. Aber eine politisch motivierte Einwanderung begann erst in den 8oer Jahren des 19. Jahrhunderts, nachdem im zaristischen Russland viele Juden bei Pogromen ums Leben gekommen waren.

Der Begriff "Zionismus" wurde im Jahre 189o von dem Wiener Schriftsteller Nathan Birnbaum geprägt; die Idee einer "Heimstätte", die allen verfolgten Juden Zuflucht bieten sollte, stammt von dem Wiener Journalisten Theodor Herzl, der sie 1896 in seiner Schrift "Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage" so detailliert und so praxisnah beschrieb, dass sie zum Programm der zionistischen Bewegung wurde. In der Einleitung zu seinem utopischen Roman "Altneuland", der 1902 erschien, schrieb er: "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen." Herzl wusste, dass er die Gründung des "Judenstaates" nicht erleben würde, aber er war sicher, dass es dazu kommen würde. Der Visionär starb im Jahre 19o4.

Was Herzl nicht voraussehen konnte, war, dass jeder Versuch, ein Problem zu lösen, neue Probleme schafft. Einerseits grenzt die Gründung Israels an ein weltliches Wunder, ein Land von der Größe Hessens, das zur stärksten Militärmacht der Region wurde, dessen Bruttosozialprodukt größer ist als das aller seiner Nachbarn zusammengenommen, in dem mehr Bücher gelesen und wissenschaftliche Erfindungen gemacht werden als in der ganzen arabischen Welt. Andererseits leben Juden in keinem anderen westlichen Land so gefährlich, ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag getötet oder verletzt zu werden, so groß wie ausgerechnet in Israel. Die Israelis wissen das und überspielen ihre Nervosität mit dem Satz: "Never a dull moment" – wenigstens wird es nie langweilig.

Israel ist der einzige Staat der Welt, dessen Existenzrecht immer wieder zur Diskussion gestellt wird. Sogar die Versicherung, Israel habe ein Recht zu existieren, hat etwas Bedrohliches an sich. Hat man so einen Satz schon mal im Zusammenhang mit Norwegen, Bulgarien oder Costa Rica gehört? Die Drohung des iranischen Präsidenten, Israel von der Landkarte verschwinden zu lassen, um eine "World without Zionism" zu schaffen, hat inzwischen ihren Schrecken verloren – zumindest für die Europäer, die mehrheitlich davon überzeugt sind, dass Israel die größte Gefahr für den Weltfrieden darstellt. Und so hat man in Europa bereits damit angefangen, die Kosten der Solidarität mit Israel mit den Gewinnen aus den Geschäften mit dem Iran zu verrechnen. Die Ansicht, dass die Gründung des "Judenstaates" ein historischer Fehler war, den man dem Frieden zuliebe korrigieren sollte, wird nicht nur in akademischen Kreisen wohlwollend diskutiert. Derweil fordern die Palästinenser nicht nur einen eigenen Staat in den von Israel besetzten Gebieten, sie bestehen auch auf dem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen nach Israel, was praktisch ein Ende Israels bedeuten würde.

60 Jahre nach der Gründung Israels ist der "Versuch einer modernern Lösung der Judenfrage" noch nicht abgeschlossen. Ob er gelingen wird, darüber kann derzeit nur spekuliert werden.