Die Unerträglichkeit des grenzenlos Bösen

Vorgestellt von Boris Schumatsky · 06.05.2012
Lässt sich der Horror der stalinistischen Gewaltherrschaft rational erklären? Der Historiker Jörg Baberowski revidiert seinen zehn Jahre zuvor entstandenen Erklärungsversuch: Kein übergeordnetes Ziel, einzig der Psychopath Josef Stalin sei der Urheber des millionenfachen Massenmordes gewesen.
"Der Bolschewismus im Licht der Psychopathologie", so hätte Jörg Baberowski seine Studie der Gewalt unter Stalin ebenfalls betiteln können. Unter diesem Titel erschien 1949 ein Artikel in Paris, in dem ein Psychiatrie-Professor, der seinen Namen hinter dem Kürzel I.S. verbarg, über seine Arbeit als Psychiater im Gulag berichtete:

Unter meinen Patientinnen war eine Aufseherin eines Frauenlagers. Sie hatte einmal ein Gespräch zweier Ermittler mitgehört. Der eine prahlte, er könne jeden Häftling zu jeder beliebigen Aussage oder Tat zwingen. Als Beweis für seine Allmacht erzählte der Ermittler, wie er eine Wette gewonnen hatte, in der es darum ging, ob er eine Mutter zwingen kann, ihrem Baby einen Finger zu brechen. Sein Geheimnis bestand darin, dass er dem anderen, zehnjährigen Kind dieser Mutter die Finger brach. Der Ermittler versprach, damit aufzuhören, wenn die Mutter ihrem Baby den kleinen Finger bricht. Die Mutter war an einen Wandhaken gefesselt. Als ihr zehnjähriger Sohn schrie, "Mama, ich kann nicht mehr!" hielt sie es nicht aus und brach dem Baby den Finger. Als die Gulag-Aufseherin dies mithörte, schüttete sie einen Topf kochendes Wasser über ihren eigenen Kopf. Sie konnte psychisch nicht verkraften, dass so etwas überhaupt möglich ist.

Das grenzenlos Böse kann unerträglich sein. Da hilft keine rationale Erklärung, wie es dazu kommen konnte, weil Erklärungen dem gefühlten Horror einfach nicht gewachsen scheinen. Eine Deutung vermag eine böse Tat nicht verständlicher zu machen. Das Eingeständnis dieses Unvermögens liegt Jörg Baberowskis neuem Buch zugrunde. Vor einem knappen Jahrzehnt hatte er den Massenmord noch mit dem Bedürfnis der Bolschewiki erklärt, die Welt zu homogenisieren und eine bessere Ordnung zu schaffen. Heute bezeichnet Baberowski diese Erklärung als "Unsinn":

Je mehr ich über die Gewalt der Stalin-Zeit las, desto klarer wurde mir, dass meine früheren Interpretationen revidiert werden müssten. Stalin war, daran ließen die Dokumente, die ich inzwischen gelesen hatte, keinen Zweifel, Urheber und Regisseur des millionenfachen Massenmordes. Das kommunistische Experiment des neuen Menschen gab den Machthabern eine Rechtfertigung für die Ermordung von Feinden. Aber es schrieb ihnen den Massenmord nicht vor. (...) Erst im Ausnahmezustand konnte ein Psychopath wie Stalin seiner Bösartigkeit und kriminellen Energie freien Lauf lassen.

In "Verbrannte Erde" führt Baberowski den Gewaltexzess konsequent auf Stalins pathologischen Gewalttrieb zurück. Das hatte ihm der ehemalige Gulag-Psychiater I.S., der über die Psychopathologie des Bolschewismus schrieb, noch zu Stalins Lebzeiten vorgemacht. Der Psychiatrie-Professor hatte heimlich eine Statistik psychischer Erkrankungen unter Lagerpersonal und Insassen geführt, und soll festgestellt haben:

Der Anteil von psycho-pathologisierten Individuen unter Ermittlern und Aufsehern war wesentlich höher als unter Berufsverbrechern, die wegen besonders schwerer Gewaltdelikte einsaßen.

Der Professor fand für diese Gewalttäter sogar spezifische Diagnosen aus dem Psychiatrievokabular seiner Zeit, zum Beispiel "psychopathische Hysteriker", die 30 Prozent des Personals ausgemacht haben sollten. Aber die Frage, ob es nicht das System Gulag war, das Menschen zu Monstern machte oder das Böse im Menschen weckte, diese Frage stellt der namenlose Psychiater genauso wenig wie Baberowski in seinem neuen Buch. Der Historiker beschreibt stattdessen sehr überzeugend, wie Stalin Schritt für Schritt die "Ermöglichungsräume" schafft, in denen sich Gewalt entfalten kann. Nachdem im Ersten Weltkrieg viele Schranken für die Gewalt gefallen waren, gaben die Bolschewiki "der Wut des Volkes eine Stimme", um auch die letzten Barrieren zu beseitigen. So sind "Gewalträume" entstanden, die den Massenmord zwar ermöglichen, ihn aber nicht selbst hervorrufen.

Dann zeigt Baberowski, wie die Gewalt eskaliert, wie sie neue Gewalt gebiert. Am Anfang dieser Gewaltspirale findet er "Stalins kriminelle Energie, seine Bösartigkeit":

"Stalin war ein Mörder, dem es Freude bereitete, zu zerstören und zu verletzen….Stalin war ein Gewalttäter aus Leidenschaft."

Allein schon der Klang seiner Stimme versetzt viele Menschen in Russland heute noch in Angst. Sie sind in sogenannten "Familien von Volksfeinden" aufgewachsen. Ihre Mütter oder Großväter wurden im Gulag getötet. Und sehr viele von ihnen würden Jörg Baberowski sicher zustimmen: Ihre Verwandten mussten sterben, weil Stalin ein Monster war.

"Wir müssen uns Stalin als einen glücklichen Menschen vorstellen, der sich an den Seelqualen seiner Opfer erfreute…..Für Sadisten und manche Psychopathen ist der Ausnahmezustand das Paradies (...) Stalin war ein solcher Psychopath."

Pathologisierung kann auch ein Schutzmechanismus gegen Taten sein, die uns unerträglich sind. Wie zum Beispiel heute die wiederholten Versuche, den Mörder von 77 Menschen, Anders Breivik, für unzurechnungsfähig zu erklären. So wird das Unerträgliche, das rational nicht nachvollziehbar scheint, zwar nicht erträglich. Es wird aber aus dem Bereich des gesunden Menschenverstandes verbannt. Viele Überlebende des Terrors, die über die Gewalt nicht nur gelesen, sondern diese selbst erfahren haben, gingen noch weiter. Der Schriftsteller Warlam Schalamow schieb über seine Gulag-Erlebnisse:

"Das Lager ist eine Negativerfahrung, eine Negativschule, es bedeutet Zersetzung für alle – für die Chefs und die Gefangenen, für die Bewacher und die Beobachter, für die Passanten und die Leser von Belletristik (...) Im Lager gibt es Vieles, was ein Mensch nicht wissen sollte, was er nicht sehen darf. Und wenn er das doch gesehen hat, ist es besser für ihn, zu sterben."

Lieber sterben, als aufhören, ein Mensch zu sein. Denn genau das tut uns die absolute Gewalt an, sagt Schalamow, sie entmenschlicht ihre Opfer und die Täter. Allein schon das Wissen über diese Gewalt mache uns zu schlechteren Menschen. So Schalamow, ein Überlebender. Für seine heutigen Leser, von denen die meisten weder Gulag noch Gewaltherrschaft erlebt haben, wirkt Schalamows lakonische Prosa wie eine Stimme aus einer fernen Welt, die mit der unseren kaum etwas gemeinsam hat. Doch dieser Eindruck täuscht, und das Buch von Jörg Baberowski ist ein Zeugnis dafür.

"Verbrannte Erde" steht in einer Reihe von Studien über die Gewaltherrschaft Hitlers und Stalins, die seit dem Ende des letzten Jahrhunderts fast jährlich erscheinen. Das Thema hat nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks nichts an seiner Brisanz eingebüßt, im Gegenteil. Kaum hatte man damals das Ende der Geschichte gefeiert, kehrte die Geschichte zurück.

Der Ausbruch der Gewalt, die Entstehung eines zuerst engen Raums, der die Gewalt anfänglich ermöglicht und in dem sie sich dann ausbreiten kann - das ist nicht allein in Russland passiert und kann sich wiederholen. Seit Jugoslawien führt unsere westliche Welt fast ständig irgendwo Krieg. Seit dem 11. September gibt es wieder rechtlose Häftlinge und Folter. Es gibt Gewalt der Islamisten und eines Breivik. Die Folter hat bereits die Fernsehbildschirme erobert, zum Beispiel als legitimes Verhörmittel in der US-Serie "24", um dann sogleich als Waterboarding in die legale Praxis umgesetzt zu werden. Das passiert in einem Teil der Welt, in dem auch wir zuhause sind. In unserer Welt ist bereits ein, um es mit Baberowski zu sagen, ein "Gewaltraum" entstanden, mag er auch noch vergleichsweise klein sein. "Verbrannte Erde" wurde bei der letzten Buchmesse in Leipzig zusammen mit zwei anderen Fallstudien zur Gewaltherrschaft ausgezeichnet. In einer Zeit, die sich selbst eine Demokratiekrise diagnostiziert, führen sie uns vor, was jenseits der Demokratie lauert.

Eine Schellack-Schallplatte dokumentiert einen damals üblichen Live-Auftritt einer Sowjetfrau:
"Ich danke dir, großer Stalin!"

Dann hetzt sie gegen Volksfeinde, sie flucht: "Schufte, Abschaum, Verräter"!


"Es gab keinen Stalinismus von unten", behauptet Baberowski. Stalins "willige Vollstrecker", wie Daniel Goldhagen die Untertanen Hitlers bezeichnete, zählt Baberowski genauso wenig zu Mitverursachern des Terrors wie die dogmatischen Überzeugungstäter, die Gerd Koenen in der "Utopie der Säuberung" beschrieb. Allein Stalins Psychopathie sei an allem Schuld gewesen.

Es gehört Mut dazu, derart radikal mit dem ideologisierten Diskurs zu brechen und nicht mehr darüber zu diskutieren, ob der Kommunismus nicht besser als der Nationalsozialismus war, oder umgekehrt. Das zollt auch den Opfern Respekt. Auch gehört Mut dazu, sich selbst und den Lesern das anzutun, was nach Warlam Schalamow ein Mensch lieber nie erfahren sollte: Eine nackte, vernunft- und grenzenlose Gewalt. Die Beschreibungen sinnloser Gräueltaten wiederholen sich hundertfach, Seite für Seite, ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Das ist die Geste eines Predigers, keines Wissenschaftlers. Sich vor einem Voyeurismus-Vorwurf nicht zu fürchten, dazu gehört auch Mut.

Baberowskis leidenschaftliche Geißelung der Gewalt offenbart vielleicht am Ende mehr über unsere Zeit als über Stalin. Statt Vergangenheitsbewältigung eine Beschwörung einer nahenden Bedrohung. Die Pathologisierung historischer Protagonisten, für die Geschichtswissenschaft wenig aussagekräftig, setzt trotzdem der Gewalt eine Grenze, verbannt sie in Sinn- und Sprachlosigkeit. Damit die Stimme der Gewalt nicht wieder erstarkt.


Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt"
C.H.Beck
Cover: "Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt"
Cover: "Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt"© C. H. Beck
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