Jessica Durlacher: "Die Stimme"

Im Visier radikaler Islamisten

05:51 Minuten
Das Cover des Buchs „Die Stimme“ von Jessica Durlacher zeigt den Schatten einer Frau, der auf einen Bühnenvorhang fällt.
© Diogenes

Jessica Durlacher

Aus dem Niederländischen von Annelie Bogener

Die StimmeDiogenes, Zürich 2022

496 Seiten

25,00 Euro

Von Irene Binal · 02.07.2022
Audio herunterladen
Das Trauma von 9/11 sitzt tief, dennoch engagiert Zelda eine Muslima als Kindermädchen. Doch dann gerät ihre Familie ins Visier radikaler Islamisten. Jessica Durlacher erzählt von Glück und Sühne mit feinem Blick für die Psychologie ihrer Figuren.
Nur zögerlich akzeptiert Zelda die Somalierin Amal als Kindermädchen. Denn Amal ist Muslimin, sie trägt den Schleier und das löst bei Zelda böse Erinnerungen an ihren Hochzeitstag aus: Am 11. September 2001 wurden sie und Bor in New York von einem Rabbi getraut, wenige Blocks vom World Trade Center entfernt, während muslimische Attentäter zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme steuerten.
Die Familie floh durch Staubwolken und Trümmerhalden und dieses Trauma hat Zelda nie mehr losgelassen. Zeldas Kinder lieben Amal und bestürmen ihre Mutter, sie als Nanny zu beschäftigen, aber Zelda zögert: „Würde ich es wirklich wagen, meine jüdischen Kinder von einer Muslima betreuen zu lassen? Was war das überhaupt für eine Frage? Hatte ich in meinem Leben jemals in solchen Kategorien gedacht?“

Zeldas Vater hat die Nazis überlebt

Jessica Durlacher beschreibt eine Familie, die nicht nur von den Ereignissen des 11. September gezeichnet ist. Zeldas Vater hat die Nazis überlebt und leidet seither unter der Angst, die zu verlieren, die er liebt – eine Angst, die auch Zelda empfindet und die sich im Suizid von Zeldas erstem Mann zu bestätigen schien.
Zelda lebt in ständiger Unsicherheit und empfindet gleichzeitig Scham für ihre Ängste. Sie sehnt sich nach Unbeschwertheit, ist sich aber bewusst, dass mit dem Bösen, das sie erlebt hat, die Zeit der Unschuld zu Ende ging: „Ich konnte die Verpflichtungen nicht mehr ignorieren, die mit dieser vernichtenden Erfahrung einhergingen.“
Bor und sie nehmen Amal schließlich doch in ihrer Familie auf. Als sie sich als hochbegabte Sängerin entpuppt, meldet Zelda sie zur Talentshow „Die Stimme“ an. Wie erwartet brilliert Amal – aber als sie nach einem Auftritt auf offener Bühne Abaya und Hidschab ablegt, bricht ein Sturm über Zeldas Familie herein. Radikale Muslime rufen eine Fatwa gegen Amal aus, und als Zelda und Bor beschließen, Amal weiterhin zu unterstützen, geraten auch sie ins Visier der Angreifer…

Wie viel muss man riskieren, um das Richtige zu tun?

All das schildert Jessica Durlacher mit großer Sorgfalt und feinem Blick für die Psychologie ihrer Figuren. Es geht um Schuldgefühle, den Versuch der Sühne und die oft dahinterliegende Eitelkeit (wenn sich Zelda als „tapfere, edelmütige Protagonistin einer schönen Geschichte“ sehen möchte), um die Frage, wie viel man riskieren muss, um das Richtige zu tun, um missbrauchten Glauben und aus Angst geborene Frömmigkeit, um Wut, Resignation und vererbte Traumata. Und nicht zuletzt um eine Familie, die am Bösen zu zerbrechen droht, um eine Frau, die zu spät erkennt, was Glück ist: "Aufsprühende Funken von Hitze, die glitzerten, weil wir in einem so rasanten Tempo lebten – das war unser Glück und ich erkenne es erst jetzt. Jetzt, da es weg ist."

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema