Die Schichten des Hauses sichtbar machen

Von Nadine Dietrich |
Nach der Nazi-Zeit standen in Deutschland nur noch wenige Synagogen, in Norddeutschland lediglich zwei: in Celle und Lübeck. Trotz dieses Seltenheitswerts wartet die Lübecker Synagoge seit dem Kriegsende auf eine Restaurierung.
Jelisawjeta Paliy, die Geschäftsführerin der jüdischen Gemeinde in Lübeck, durchquert das große Foyer der Synagoge in der historischen Altstadt. Sie öffnet den Gebetssaal und bleibt stehen:

"Es ist ein Juwel, wo haben Sie so eine Pracht gesehen....sieht aus wie vor 130 Jahren... "

Der Lübecker Gebetssaal ist ein hoher, breiter und langgestreckter Raum mit geweißten Wänden, zahlreichen Stuhlreihen links und rechts des Mittelganges. Es gibt verzierte Holzemporen an den Längsseiten und bunte Glasmosaik-Fenster in der Decke über der Bimah. Jelisawjeta Paliy deutet auf Setzungsrisse neben den Fenstern:

"Diese großen Risse, die sind tief und die werden größer und größer. Von beiden Seiten: Wasserschaden und Schimmelstellen und das ist schon seit Jahren so. "

Dann läuft sie zielstrebig auf die Bimah zu und deutet auf zwei Handtuch-große Streifen in der geweißten Mauer: in dunkelrot, golden-ocker und braun lassen sich Wandmalereien erkennen.

"Wenn Restauratorin das entdeckt hat, wir waren so begeistert, das war einfach ein unglaubliches Ergebnis. Es wird alles freigelegt und restauriert. Stellen Sie sich vor, wie schön es wird. "

Dass das jüdische Gotteshaus als Ganzes die Reichpogromnacht überstand, war kein Wunder, sondern Kalkül: die Hansestadt Lübeck hatte der jüdischen Gemeinde längst die Synagoge abgepresst, die Übergabe stand kurz bevor. Am 9. November 1938 verschonten die Nazis deshalb das große Gebäude in der Innenstadt: Es sollte Turnhalle, Kindergarten, Theatermagazin und Schulwerkstatt werden. Doch zuerst rissen sie die weithin sichtbare Kuppel vom Dach und zerstörten die Fassade mit der aufwendig verzierten maurischen Front und den zahlreichen hohen, schmalen Rundbögenfenstern aus dem Jahr 1880. Die neue Fassade entsprach ganz der sogenannten Blut- und Bodenarchitektur mit roten Ziegelsteinen. Sie steht bis heute und sie steht unter Denkmalschutz.

Mit der Sanierung verbanden trotzdem viele Lübecker Juden die Hoffnung, die Nazifassade loszuwerden, auch die Geschäftsführerin der Gemeinde Jelisawjeta Paliy:

"Diese Fassade wurde gebaut, um Erinnerung an Juden auszulöschen, zu vernichten. Das macht ein unschönes Gefühl. Die Vorstellung, wie da abgerissen und zerstört wurde und die Nazifassade gebaut und durch diese Nazifassade zu gehen, das tut weh. "

Fast eineinhalb Jahre diskutierte die 600 Frauen und Männer zählende Gemeinde die Entwürfe zur Synagogensanierung, es ging dabei oft sehr emotional zu, sagt Gemeindemitglied Soya Kanuschin.

"Viele ältere Leute in der Gemeinde, erste Bewegung: Wir wollen das so schön wie 1880, aber wir leben 2012, viel Diskussion, endlich entschlossen, wir machen so: authentisch, man sieht, was passiert ist und die Synagoge wird saniert."

Statt Rückbau ins Maurische, statt Überformung der Nazifront legt der Entwurf des Lübecker Architekten Thomas Schröder-Berkentien alle historischen Schichten des Hauses offen: den Glanz, die Wunden, die schwierige Gegenwart: Im Inneren sollen alle ursprünglich maurischen Elemente wieder hergestellt werden – so dass das jüdische Leben vor der Nazi-Herrschaft spürbar wirdLübecks Kultursenatorin Annette Borns gefällt der Entwurf, mit dem sich die Gemeinde nun um das Geld verschiedener Stiftungen bewirbt.

"Dass hier nicht der Blick in die Vergangenheit allein gerichtet wird also nicht nur Rekonstruktion, auch deutsche Geschichte erlebt, Perspektive für die Zukunft. Es ist auch noch nicht alles durchgearbeitet – das ist die Aussage."

Der Gemeinde und dem Architekten ist ein Entwurf gelungen, der erfüllt, was kritische Historiker aktuell immer häufiger fordern: Dass NS-Geschichte nicht zum Museumsgeschäft wird, sondern im öffentlichen Raum und im Alltag erlebbar bleibt oder wieder wird. Für die Gemeinde bleibt ein Beigeschmack. Wir Juden bedürfen nicht der täglichen, sichtbaren Erinnerung, sagt Geschäftsführerin Jelisawjeta Paliy:

"Ich als Privatperson bin mit der Fassade nicht einverstanden. Aber unsere Gemeinde soll funktionieren und wenn wir diese Diskussion weiterführen, dann zerfällt die Synagoge weiter, die Risse werden tiefer. So geht es nicht, deshalb hab' ich mich in Gedanken, nicht im Herzen, sondern im Kopf mit der Fassade versöhnt. "

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