Streit entzweit jüdische Gemeinde in Berlin

Von Philipp Gessler · 29.06.2013
Seit Jahren gibt es in der jüdischen Gemeinde Berlins - der größten Deutschlands - Streit und finanzielle Probleme. Zuletzt kam es während einer Sitzung des Gemeindeparlaments zu einer Schlägerei. Auslöser war Streit um die Beleihung eines Grundstücks, um ausstehende Gehälter zu bezahlen. Doch was steckt noch dahinter? Eine Ursachensuche.
Ein Frühsommertag in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. Fahrräder, Autos, die Tram rauscht vorbei, Touristen bewundern die goldene Kuppel der Neuen Synagoge – eines der Wahrzeichen Berlins.

Es geht, vorbei an Wachleuten und einer Schleuse wie in einem Flughafen, hinein in das Centrum Judaicum. Unter der großen Kuppel, restauriert in den letzten Jahren der DDR, finden heute wieder jüdische Gottesdienste statt. Jeden Freitagabend, zum Beginn des Schabbat, treffen sich Gläubige in einem eher schlichten Gebetssaal. Es ist ein sogenannter liberaler Gottesdienst: Rund 30 Männer und Frauen sitzen gemeinsam auf den dunklen Sitzbänken, auch Frauen werden zum Lesen der Thora gerufen.

Man kennt sich, man schwatzt ein wenig vor dem Beginn des Gebets. Zwei Jungen mit einer Kippa auf dem Kopf sprinten durch die Reihen, die Atmosphäre ist familiär – und international. Heute sind Gläubige aus den USA gekommen, zwei Ukrainer, eine Israelin ebenso. Nach dem ersten Begrüßungslied, so hatte Rabbinerin Gesa Ederberg gebeten, sollte das Mikro doch ausgeschaltet werden. Schließlich sei Schabbat!

Aber Schalom – Frieden – ist derzeit schwer zu finden in der Jüdischen Gemeinde Berlin. Die mit rund 10.000 Mitgliedern größte jüdische Gemeinde der Bundesrepublik macht seit Jahren vor allem durch internen Streit von sich reden. Am 23. Mai kam es in der Repräsentantenversammlung, dem Gemeindeparlament, zu einem neuen Höhe-, oder besser Tiefpunkt in diesem Dauerstreit. Es gab eine Prügelei zwischen Repräsentanten. Zuschauer dieser Sitzung haben das denkwürdige Ereignis auf ihren Handys aufgenommen.

Ein paar Tage später werden die Aufnahmen des Tumults auf der Leinwand eines kleinen Kinos eines Hotels am Kurfürstendamm gezeigt – und es ist großes Kino, das hier zu sehen ist. Die so genannte "Opposition" der Gemeinde ist zusammengekommen, um möglichst vielen Leuten die beschämenden Aufnahmen zeigen zu können.

Der Sprecher der "Opposition", der Rechtsanwalt und Journalist Micha Guttmann, zeigt sich zerknirscht:

"Dass das in unserer Gemeinde passiert ist, ist ein Tiefpunkt. Und ich kann mir fast nicht vorstellen, dass es noch tiefer geht."

Er appelliert an die Versammelten, noch Unterschriften zu sammeln für eine gemeindeinterne Initiative. Mit ihr sollen Neuwahlen für das Gemeindeparlament erzwungen werden. Man brauche etwa noch 250 Stimmen, so Guttmann, bei 2.000 Unterschriften sei man auf der sicheren Seite.

"Das ist wirklich die letzte Chance eines demokratischen Wechsels für diese Gemeinde. Wenn wir das nicht packen, sieht es düster aus, glaube ich, für uns alle. Deshalb müssen wir uns noch mal anstrengen. Deswegen auch der Appell: Nicht austreten aus der Gemeinde! Zur Zeit. Wir müssen sehen, wenn wir den demokratischen Wechsel schaffen, dann haben Sie es nicht mehr nötig, aus der Gemeinde auszutreten. Und wenn wir ihn nicht schaffen, stellt sich eine neue Situation. Und dann werden wir sicher noch einmal zusammenkommen und überlegen, was wir dann tun können."

Sitzung im Eiltempo ohne Medienöffentlichkeit
Noch am gleichen Abend trifft sich im Gemeindezentrum das Gemeindeparlament zu einer ordentlichen, öffentlichen Sitzung. Die "Opposition" boykottiert die Sitzung. Waren zur Veranstaltung der "Opposition" ins Kino knapp 100 Interessierte gekommen, verlieren sich in dem großen Gemeindesaal gerade mal zwei Dutzend Zuhörer.

Es ist eine etwas beklemmende, leicht absurde Veranstaltung, denn gleich zu Beginn werden zwei Repräsentanten anlässlich ihres Geburtstages mit Applaus geehrt. Aber sie sind nicht da, da sie zur Opposition gehören.

Dann bittet der Vorsitzende der Repräsentantenversammlung, das Aufnahmegerät auszuschalten, das sei eine generelle Regelung. Auch der Vorsitzende der Gemeinde, Gideon Joffe, hat es nicht so mit der Öffentlichkeit – Interviews gibt er selten. Für Deutschlandradio Kultur steht er ebenfalls nicht zur Verfügung, trotz mehrfacher Anfragen.

Die Sitzung der Repräsentantenversammlung wird im Eiltempo abgehandelt. Die Abstimmungen gehen fast alle einstimmig-sozialistisch aus. Das ist sehr ungewöhnlich, denn normaler Weise gehen diese Sitzungen mit langen Diskussionen und Abstimmungen bis tief in die Nacht. Manche nannten diese elenden Sitzungen deshalb nur noch verächtlich "Muppetshow".

An diesem Abend aber ist das anders. Alles läuft schneller – aber nicht besser. Rasch wird eine neue Schuldezernentin gewählt, weil die bisherige ob der Querelen in der Gemeinde hingeschmissen hatte. Auch ein neuer Vertreter der Gemeinde im Rundfunkrat wird gewählt. Der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe erhält nun diese Position. Auch das geht ganz schnell.

Die Gemeinde hat seit Jahren mit einem Millionendefizit zu kämpfen. Zugespitzt hatte sich die Lage in den vergangenen Wochen dadurch, dass die Berliner Landesregierung ihre Zuschüsse an die Gemeinde nicht mehr auszahlen wollte. Ein stimmiger Haushalts- und Stellenplan konnte offensichtlich nicht vorgelegt werden. Es kam zum Tumult im Gemeindeparlament, als sich die Opposition übergangen fühlte. Sie sollte, so sieht sie das, der Beleihung eines Grundstücks zur Zwischenfinanzierung der Gehälter zustimmen - ohne zu wissen, welches Grundstück es überhaupt sei und wie viel das genau bringen sollte.

Viele verunsicherte Gemeindemitglieder
Wer da wen geprügelt hat und wer angefangen hat, darüber streiten sich nun die Joffe-Leute und die "Opposition". Aber die Frage ist vielmehr: Warum gibt es überhaupt seit so vielen Jahren so heftigen Streit in der Gemeinde? Was sind die eigentlichen, tieferen Gründe, dass in der Berliner jüdischen Gemeinde seit Jahren so ausdauernd gestritten wird?

In Kirchengemeinden und Moscheegemeinden wird gestritten. Auch in anderen jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik. Aber warum sind gerade die Streitereien in Berlin so heftig und anhaltend? Auf einem Fest des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn in Berlin-Mitte versucht der ehemalige Schüler Jonathan Marcus eine Antwort zu geben.

"Ich würde sagen, das liegt vor allem daran, dass die Berliner Gemeinde viel größer ist, viel etablierter in den Strukturen. Man ist auch gerade in Berlin viel zentraler aufgestellt, weil Berlin halt so ein zentraler Punkt ist. Die Stadt ist gleich das Bundesland. Man sieht das ja auch in Berlin: Das heißt: Man hat die Schulen. Man hat viel mehr jüdisches Leben hier durch die Größe. Und dadurch potenziert sich vieles hier."

Der 32-jährige Jonathan Marcus ist trotz seines jugendlichen Alters eine fast historische Figur: Der junge Berliner hat als erstes jüdisches Kind nach dem Krieg seit dem Kindergarten nur jüdische Bildungseinrichtungen besucht – und gehörte im Jahr 2000 zum ersten Abiturjahrgang des Jüdischen Gymnasiums, damals noch Jüdische Oberschule genannt. Er sieht einen Grund für den andauernden Streit in der Gemeinde in der Verunsicherung vieler zugewanderter Gemeindemitglieder. Sie haben es oft schwer, in Berlin Arbeit zu finden, auch weil es ihnen an Sprachkenntnissen mangelt und ihre Diploma nicht anerkannt werden. Diese Unsicherheiten werde von manchen ausgenutzt:

Marcus: "Ich glaube sehr oft, dass da Emotionen auf Seiten der Zuwanderer ausgenutzt werden, um zu polemisieren, um Neid zu entfachen und daraus dann politisches Kapital zu schlagen. Das ist dann eben die Grundströmung, auf der dann eben leider so eklatante Dinge passieren können.”"

Zu viel Personal, zu wenige Mitgliederbeiträge
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin wird vom Land stark subventioniert. Es müssen acht Synagogen finanziert werden, aber auch eine Kita, zwei Schulen, ein Jugendzentrum, vier Friedhöfe, zwei Altenheime, ein Pflegeheim, ein Krankenhaus – mit insgesamt über 300 Angestellten. Das ist mit den normalen Synagogensteuern der Gemeindemitglieder nicht zu schaffen.

Das glaubt auch Julius Schoeps. Der 71-jährige Historiker war früher Vizevorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und ist Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam. Er schätzt, dass nur etwa 800.000 Euro des Gemeindeetats von offenbar rund 20 Millionen Euro im Jahr – genaue Zahlen gibt es darüber nicht - aus Mitgliedsbeiträgen kommen.

Bedeutet das, dass mit dem Geld, da es größtenteils fremdes Geld ist, zu locker umgegangen wird? Und gibt es zu viele Begehrlichkeiten auch von Leuten, die eben keine adäquate Leistung bringen für das Gehalt, das sie bekommen?

""Wenn man davon ausgeht - und ich war ja selber mal im Vorstand dieser Gemeinde gewesen - und die Probleme waren damals schon vorhanden: Einmal zu viele Angestellte, sagen wir mal, wenn es 10.000 Mitglieder sind, und es sind 350 Angestellte, das ist schlicht und einfach zu viel. Nach meinem Dafürhalten, der ich mich etwas in diesem Bereich auskenne, würden 150 Mitarbeiter ausreichen, vollständig ausreichen."

Zu viele Aufgaben. Zu viel Personal. Das ist ein Grund für den Dauerstreit in der Gemeinde. Ein anderer Grund könnte sein: Die jüdische Gemeinde zu Berlin ist – trotz der teilweise recht üppigen Ausstattung – eigentlich eine arme Gemeinschaft. Denn viele Gemeindemitglieder sind verrentet oder leben von Hartz IV, zahlen also keine Synagogensteuer:

"Ich gehe davon aus, dass ein Bruchteil nur Synagogensteuer bezahlt, und das ist das eigentliche Problem. Wir haben es hier zu tun mit natürlich der Gruppe der Zuwanderer, viele von denen Hartz-IV-Empfänger, und das ist eine komplizierte Situation. Ich bin der Ansicht natürlich, ohne das Zahlen von Gemeindesteuer kann eine Gemeinde nicht funktionieren. Eine Gemeinde wächst von unten und hängt nicht am Tropf. Und das Problem, was ich hier sehe, ist eine Überfinanzierung seitens des Staates und die mangelnde Kontrolle über Geldflüsse. Es handelt sich schließlich hier um Steuergelder, und hier hat der Senat eine gewisse Verantwortung."

Ähnlich argumentiert Albert Meyer. Der Berliner Notar war früher ebenfalls Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Sein Büro liegt im Westen der Stadt, dort, wo es schon immer ziemlich wohlhabend zuging. Das Notarbüro gleicht eher einem edlen Wohnzimmer. Meyer schätzt, dass nicht einmal zehn Prozent der Kosten der Gemeinde durch die Synagogensteuer getragen werden.

"Es fließt unnötig viel Geld. Ich möchte Ihnen nur ein Beispiel nennen: Im Jahr 2003 war ich Vorsitzender und habe einen Wirtschaftsplan übernommen, der ein Defizit ausgewiesen hat von 1,8 Millionen. Schon im ersten Jahr ist es mir gelungen, dieses Defizit erheblich runter zu bekommen. Im zweiten Jahr hatten wir noch nur 280.000 Euro Defizit – und haben nirgends eine Leistung eingespart. Das heißt man kann hier effektiv wirtschaften und der Gemeinde trotzdem die gleichen Angebote bieten."

Der Historiker Julius H. Schoeps spricht in Potsdam anlässlich der Verleihung der Moses-Mendelssohn-Medaille 2012.
Julius H. Schoeps, Historiker© picture alliance / dpa / Oliver Mehlis
Die Gemeinde in der Gemeinde – Zuwanderung aus Russland
Die Zuwanderung russischer Juden aus der Sowjetunion hat seit Ende der 80er Jahre zu einem Wiederaufleben der damals langsam sterbenden Jüdischen Gemeinde Berlins geführt. Aber die Kosten waren hoch, nicht zuletzt weil viele Neuzuwanderer, aus der Not geboren, damals einen Job in der Gemeinde erhielten - auch um sie zu versorgen:

Meyer: "Es war wie ein Versorgungswerk. Und dass aus diesem Versorgungswerk dann eben die Abkehr von einer jüdischen Gemeinde zu einem russischen Kulturverein war, das hat man nicht vorher gesehen."

Etwas eleganter – aber doch in ähnlicher Richtung – drückt es Micha Brumlik aus. Der 1947 geborene Erziehungswissenschaftler und Publizist gehörte zu den prägenden Gestalten des Judentums in Frankfurt am Main. Vor kurzem ist er nach Berlin gezogen. Er hat den Vergleich mit anderen jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik und schaut zurück bis auf die Zeit des Berliner Gemeindechefs Heinz Galinski, eines kantigen KZ-Überlebenden, der die Gemeinde Jahrzehnte lang mit eiserner Hand führte.

Micha Brumlik sieht zwei grundsätzliche, schon ziemlich alte Ursachen für den Berliner Schlamassel. Zum einen die Zuwanderung von russischen Juden aus der Sowjetunion seit 1989. Viele von ihnen hätten die Erwartung an die Gemeinde gehabt, von ihr soziale Sicherheit zu erhalten.

Brumlik: "Darauf hat die Gemeinde damals in Gestalt von Heinz Galinski reagiert, indem gleichsam gemeinde-keynesianisch man versucht hat, sehr viele Stellen zu schaffen, die die finanzielle Kraft dieser Gemeinde eindeutig überstrapazieren. Nicht zuletzt deshalb, weil ein großer Teil der Neuzugänge selbst von Transfereinkommen lebt und keine Steuern zahlen kann. Und zum anderen dadurch, dass seit Heinz Galinskis Zeiten die Leitung der Gemeinde hauptberuflich geführt wird. Und das heißt: hoch bezahlt dotiert wird. Das weckt Begehrlichkeiten auf der einen Seite. Und es erweckt Animositäten all jener, die daran nicht beteiligt sind, auf der anderen Seite."

Brumlik meint, es sei zu viel fremdes Geld in der Gemeinde, weshalb die Begehrlichkeiten so groß seien. Er verweist auf die mindestens 300 Stellen, die zur Gemeinde gehören.

"Nun kann man dem jetzigen Vorstand alles Mögliche vorwerfen. Tatsache ist, dass sowohl das Land Berlin als auch die vorigen Gemeindevorstände dieses mitgetragen haben aus den besten Absichten. Da würde ich gern vom Fluch der guten Tat sprechen. Es war einfach keine gute Idee, eine subventionierte Körperschaft des öffentlichen Rechts mit einem so großen Stellenpool auszustatten. Das hätte man nicht machen dürfen."

"Eine Form von Klassenkampf"
Der Notar Albert Meyer sieht zudem sozio-kulturelle Gründe für den Streit in der jüdischen Gemeinde der Hauptstadt. Er spricht nicht sonderlich positiv über viele der zugewanderten Mitglieder, die derzeit in der Gemeindeleitung am Drücker sind – vor allem nicht über ihr demokratisches Bewusstsein.

Meyer: "Sie sind bereit, sich diktatorisch führen zu lassen. Das heißt: Wir haben gegenwärtig eine Situation wie in einer Diktatur, wie im Stalinismus, wie im Bolschewismus. Das heißt: Einer sagt und die anderen folgen."

Während die Opposition derzeit vor allem aus dem saturierten, alten West-Berliner Establishment stammt, sind viele der Joffe-Leute Zugewanderte, die Armut in ihrer Familiengeschichte nur allzu gut kennen. So ist es logisch, dass Meyer den langjährigen Streit in der Gemeinde auch als einen zwischen arm und reich, alteingesessen und zugewandert interpretiert:

"Wo ich noch ein Problem sehe, ist, dass wir uns in einer Art Klassenkampf befinden. Die einen sind die so genannten Etablierten, Nachkriegsjuden, die hier waren. Die werden auch beschimpft als ‚reiche Schweine‘. Das ist ein Ausdruck, der eigentlich – erstens ist ein Schwein nicht koscher - und zweitens ist es ein Ausdruck, den man einfach nicht im Umgangston gebraucht. Und das ist eine Form von Klassenkampf. Und das ist natürlich nicht sehr angenehm, dass so etwas existiert momentan."

Von einem solchen Klassenkampf ist auch bei der Veranstaltung der "Opposition" im Kino etwas zu spüren. Lala Süsskind war im Publikum zugegen. Sie selber stammt aus dem alteingesessenen Gemeinde-Establishment. Sie war die Vorgängerin des Gemeindechefs Joffe, ebenso wie die Gemeindevorsitzenden Brenner und Kanal, von denen sie spricht:

Süsskind: "Sie wissen, dass Herr Joffe bezahlt wird. Das ist sein gutes Recht. Das ist das gute Recht jedes Vorstandsmitgliedes in jeder jüdischen Gemeinde. Wer es nicht braucht, hat es nicht genommen. Das war Dr. Brenner, Herr Kanal – und wie sie alle heißen. Und ich selbstverständlich auch nicht. Es tut mir wahnsinnig leid, dass er nicht mindestens so reich ist wie ich, so dass wenigstens diese Neiddebatte nicht dabei wäre."

Sergey Lagodinsky gehört – anders als Lala Süsskind – zu den etwas kühleren Intellektuellen der Gemeinde. Und er gehört zur Opposition. Der promovierte Jurist ist smart, jung und arbeitet im ziemlich schicken Gebäude der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin-Mitte am Deutschen Theater. Geboren 1975 in der Sowjetunion, wanderte er mit seiner Familie vor 20 Jahren nach Deutschland ein. Er hat unter anderem in Harvard studiert – und schon des öfteren radikale Veränderungen in seinem Leben gemeistert. Viele in der Gemeinde sind da nicht so weit:

Lagodinsky: "Weite Gemeindeteile haben sich auseinander gelebt. Die Gemeinde wird immer größer. Die Mitglieder und die Strukturen haben es aber nicht geschafft, sich an diese neue Situation anzupassen. Die kleine, gemütliche, familiäre Gemeinde, die es früher gab, die gibt es nicht mehr. Der Umgang ist aber immer noch familiär. Und so haben wir eine Situation, wo praktisch Menschen, die einander fremd sind, miteinander sprechen, als wären sie eine Familie. Dadurch entstehen Verletzungen. Und dadurch entsteht unnötige Emotionalisierung und auch die Unfähigkeiten, die nötige Distanz zueinander zu halten. Und das artet dann aus in verschiedene Auseinandersetzungen, die unangenehm sind."

Lagodinsky erkennt in der Gemeinde Traumatisierungen, die im Hintergrund eine Ursache für den Dauerstreit in der jüdischen Gemeinschaft der Hauptstadt sein könnten:

"Ich glaube schon, dass sozusagen, wenn wir die Mitglieder uns anschauen, dann ist das eine hoch traumatisierte Mitgliedschaft. Wir haben eben Menschen, die durch die intergenerationellen Nachwehen des Holocaust traumatisiert sind, einerseits – und andererseits Menschen, die durch die Auswanderungsgeschichten, durch den Verlust des Ansehens ihrer Eltern und Großeltern traumatisiert sind. Da schließe ich mich auch nicht aus. Natürlich ist das eine besondere Situation, in einer neuen Gesellschaft sich wieder zu finden, sich zurecht zu finden und auch zu sehen, wie die ältere Generation hier sich eben nicht zurecht finden kann. Das ist ja häufig der Fall."

Was alle verbindet: die eine Vergangenheit
Das Gedenken an den Holocaust ist nach wie vor eines der wenigen Verbindungsmomente in der zerstrittenen Gemeinde. Bei der Festfeier zum 20-jährigen Jubiläum der Jüdischen Oberschule singt Kantor Isaac Sheffer ein Trauerlied für die Opfer des Völkermordes an den europäischen Juden: El Male Rachamim. Alle stehen auf.

Der frühere Gemeindevorsitzende Alexander Brenner steht im Gemeindehaus an der Fasanenstraße zu einem Interview bereit. Es ist ein ziemlich schmuckloser Zweckbau an der zentralen S-Bahn-Trasse Berlins. Der frühere Diplomat Brenner verweist auf die politische Bedeutung, die die jüdische Gemeinschaft für die deutsche Gesellschaft habe:
"Vergessen Sie eines nicht: Die jüdische Gemeinde in Deutschland überhaupt hat eine politische Bedeutung für die jeweilige Bundesregierung, die in gar keinem Verhältnis steht weder zu ihrer Quantität noch zu ihrer Qualität. Das heißt, die jeweilige deutsche Bundesregierung ist daran interessiert, dass es hier eine jüdische Gemeinde gibt – wegen der Vergangenheit und so weiter."

Das Argument, dass zu viel fremdes Geld in der Gemeinde stecke, lässt Brenner nicht gelten:

"Aber zu sagen jetzt, dass die jüdische Gemeinde jetzt zu viel Geld bekommt, das kommt auf einen sehr fruchtbaren Boden. Nach dem Motto: Die Juden wollen wieder Geld. Und es gibt wieder sehr viele Leute, die das nicht ungern hören. Und ich glaube, das hat einen demagogischen Beigeschmack. Wir haben ja sieben Synagogen - oder sechs Synagogen. Ich weiß nicht, ob man die braucht. Ich weiß es nicht. Da kann man darüber streiten. Aber von der anderen Seite ist es für Berlin und Deutschland wichtig, dass man vorzeigen kann: Hier gibt es wieder ein jüdisches Leben."

Zurück zur Feierstunde des Jüdischen Gymnasiums in Berlin-Mitte. Der Schabbat ist vorbei, Rabbinerin Gesa Ederberg darf wieder Interviews geben - und tut, was ihres Amtes ist: Sie ruft zur Einheit der Gemeinde auf:

Ederberg: "Wir haben eine lange Tradition der Einheitsgemeinde, wo die verschiedenen Richtungen und Meinungsunterschiede gut unter einem Dach zusammen leben. Klar, streitet man sich, klar, fetzt man sich. Ich denke, da muss eine Rückbesinnung auf die Werte und vor allem auch auf die Ziele: Wozu ist die jüdische Gemeinde da? Wie will sie sich auch in der Öffentlichkeit präsentieren? Das ist dringend nötig."

Auf der Feierstunde der Schule ist auch Margot Friedländer. Die 91-jährige Berlinerin war in der NS-Zeit lange versteckt in Berlin. Später hat sie das KZ Theresienstadt überlebt, ehe sie nach dem Krieg nach New York ausgewandert ist. Vor ein paar Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, den sie im KZ kennengelernt hatte, ist sie zurückgekehrt in ihre Heimatstadt Berlin. Sie hat wieder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Was denkt sie über den Streit in der Gemeinde?

Friedländer: "Das macht mich sehr traurig. Denn ich kann nicht verstehen, dass man nicht einen Weg finden kann, zusammenzuarbeiten. Da scheinen Probleme zu sein, von denen ich nichts weiß. Denn ich gehöre nicht zur Gemeinde."

Heute seien die Streitigkeiten in der Gemeinde wahrscheinlich der Grund, dass sie nicht zur Gemeinde gehöre, sagt die alte Dame mit einer kleinen schwarz-rot-goldenen Schleife als Zeichen ihres Bundesverdienstordens auf der Brust.

"Ich finde, sie sollen das versuchen, in Ordnung zu bekommen."

In all dem Schlamassel in der Gemeinde gibt dieses Fest im Jüdischen Gymnasium denn doch Hoffnung, dass sich die Gemeinde eines Tages wieder erholen kann. Mit der Mahnung einer alten Überlebenden des Holocaust - und der Hoffnung der jungen jüdischen Musikerinnen und Musiker, die an diesem Tag aufspielen.

Offensichtlich ist: Der nötige Umbau der jüdischen Gemeinde wird wohl Jahre dauern. Rabbi Tarfon, der Anfang des 2. Jahrhunderts nach der Zeitenwende lebte, wird der Spruch nachgesagt: "Nicht liegt es an dir, das Werk zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, von ihm abzulassen." Insofern ist auch für die Jüdische Gemeinde zu Berlin Hoffnung angesagt.
Alexander Brenner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
Alexander Brenner, ehemaliger Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Berlin© AP
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