Scham

Ein ambivalentes Gefühl

80:33 Minuten
Illustration: Augen spähen aus dem T-Shirt eines Menschen, der sich schämt.
Die größte Bestrafung finde im eigenen Kopf statt: das Gefühl nicht gut genug zu sein, sagt die Journalistin und Buchautorin Jessica Libbertz. © imago / Ikon Images / Bea Crespo
Moderation: Tim Wiese · 16.07.2022
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Schämen ist menschlich – wir schämen uns für uns und für andere. Aber warum ist den einen schnell etwas peinlich, während andere alles weglächeln? Welche Folgen hat die Scham für unsere Gesundheit, unsere Beziehungen? Wie können wir mit ihr umgehen?
Die Scham hat viele Gesichter. Wer kennt nicht jene peinlichen Momente, bei denen man einfach nur im Boden versinken will: Man lästert über jemanden, und der steht hinter einem, man rutscht in aller Öffentlichkeit aus, beim Sport reißt die Hose, man pupst vor anderen… Wir werden knallrot und hoffen, dass es nicht so viele mitbekommen haben. Und meist ist das Missgeschick schnell vergessen.
Es gibt die Momente der Fremdscham, wenn der Vater meint, auf der Party der Tochter mittanzen zu können, wenn jemand beim Karaoke total danebenliegt, aber munter weiter singt, oder schlicht peinliche Insta-Fotos.
Schmerzlicher und folgenreicher ist die Scham für Menschen, die sich unzulänglich oder nicht dazugehörig fühlen – zu dick, nicht schön oder gebildet genug oder weil sie finanziell nicht mithalten können. Diese Scham kann ausgrenzen, sie schürt Versagensängste und zehrt an unserem Selbstbewusstsein. Sie isoliert und kann krank machen. 

Permanente Form der Selbstbestrafung

"Die Scham ist wie ein Tsunami, der das gesamte Selbstwertgefühl infrage stellt", sagt Jessica Libbertz. Die Journalistin und Sportmoderatorin kennt viele Seiten der Scham aus eigener Erfahrung. Als Kind, weil sie den regionalen Dialekt nicht beherrschte, als Teenager, weil sie sich zu dick fühlte. Als Fußballreporterin, weil sie vor einem Millionenpublikum in einen Fettnapf getreten war – und der mediale Shitstorm auf sie herabprasselte. All das beschreibt sie in dem Buch "No shame. Wie wir den Teufelskreis der destruktiven Scham verlassen".

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Ihre Erfahrung: "Die größte Bestrafung beginnt im eigenen Kopf. Wir denken, dass wir nicht ausreichen. Wir denken, dass wir es nicht gut gemacht haben. Wir denken und denken und denken. Und meistens nichts Gutes über uns. Negative Gedanken sind eine unaufhörliche Form der Selbstbestrafung."
Ihr Weg, aus dieser Schamspirale herauszufinden: "Sich selbst schulen, nicht nur den Mangel betrachten." Ihr haben Meditation und ein Dankbarkeitstagebuch geholfen – und das Anerkennen eigener Schwächen. Ihre Überzeugung lautet: "Schwach macht stark, nicht umgekehrt!"

Fremdscham ist wie Schmerz empfinden

"Soziale Gefühle wie die Scham sind eine Art moralisches Barometer", sagt Frieder Paulus, Professor für Methoden sozialer Neurowissenschaften an der Universität zu Lübeck. "Sie melden zurück, wenn man gegen eine soziale Norm verstoßen oder sie besonders gut erfüllt hat. Sie bringen uns dazu, einen solchen Verstoß in Zukunft zu vermeiden oder uns zu entschuldigen, so dass wir unsere Beziehungen aufrechterhalten können."
Der Psychologe erforscht unter anderem die neuronalen Grundlagen von Scham und Peinlichkeit, dazu gehören auch Studien zur Fremdscham. Eine Erkenntnis: Fremdscham tut weh. Das zeige sich in den Hirnscan-Aufnahmen der Probanden. Angesichts von peinlichen Situationen anderer Menschen würden in deren Gehirn dieselben Areale aktiviert wie beim Schmerzempfinden. Die Reaktion sei umso größer, wenn sie die betroffene Person kennen.
Schamvorstellungen unterliegen auch den jeweiligen Zeiten, so der Neurowissenschaftler. "Man merkt, dass derzeit viele Normvorstellungen hinterfragt werden: Dass jemand noch ein Auto hat, dass er noch fliegt oder Fleisch isst, das wird von vielen infrage gestellt." Um diese Flug- oder Fleischscham werde in manchen Kreisen hart gerungen, und es sei abzuwarten, ob auch sie sich zur Norm entwickeln.

Voll peinlich: Die Scham – ein ambivalentes Gefühl
Darüber diskutiert Tim Wiese am 16. Juli mit der Journalistin Jessica Libbertz und dem Psychologen Frieder Paulus, live von 9.05 bis 11 Uhr. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 0800 2254 2254 sowie per E-Mail unter gespraech@deutschlandfunkkultur.de.

(sus)
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