Die „Protokolle der Weisen von Zion“

Karriere einer antisemitischen Lüge

10:50 Minuten
Eine Hand hält die Fäden auf der Welt zusammen.
Die "Protokolle der Weisen von Zion" verbreiteten den antisemitischen Glauben an eine vermeintliche "jüdische Weltverschwörung" – bis heute finden sie ein Publikum. © Getty Images / iStockphoto / Nuthawut Somsuk
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 11.09.2022
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Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sehen viele Antisemiten als Beleg für eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Die Herkunft des erfundenen Pamphlets ist bis heute nicht eindeutig geklärt – inspiriert ist es von einem Schauerroman.
Eine düstere, sternenlose Nacht auf dem berühmten „Judenkirchhof" in Prag. Die beiden Männer, die sich dort im Gebüsch versteckt haben, werden Zeugen einer seltsamen Prozession: Eine Schar geisterhafter Gestalten betritt den Friedhof und macht am Grab eines berühmten Rabbiners Halt. Und dann dröhnt eine mächtige Stimme durch die Dunkelheit:
„Das Volk Israel erhebt sich von seinem Sturz. Gewaltig ist die Macht geworden, die es über die Throne und Völker ausübt. Wenn alles Gold der Erde unser ist, ist alle Macht unser. An den Wassern von Babylon waren wir in der Gefangenschaft; man hat unsere Tempel zerstört; man hat uns geknechtet. Aber jetzt werden wir sie knechten, solange die Welt besteht. Achtzehn Jahrhunderte haben unseren Feinden gehört; das neue Jahrhundert gehört Israel…“

Die Story: Weltherrschaft durch Gold und Atheismus

Den Lauschern im Gebüsch ist klar: Sie sind soeben Zeugen einer „jüdischen Weltverschwörung“ geworden. Hier haben sich Vertreter der zwölf Stämme Israels versammelt, um einen Umsturz zu planen.
Der Historiker und Slawist Michael Hagemeister beschreibt die Grundzüge der Erzählung so:
„Durch die Macht des Goldes, durch das tödliche Gift des Liberalismus, durch Rationalismus, Materialismus, Atheismus soll die nichtjüdische Welt zersetzt werden, indem dann die Nichtjuden aus Sehnsucht nach Frieden und Sicherheit den Juden schließlich freiwillig – und, das ist ganz entscheidend – die gesamte Macht übergeben.“

Vom Schauerroman zum vermeintlichen „Protokoll“

Nur ist alles, was hier berichtet wird, kompletter Unfug. Weder hat es jemals eine geheime Zusammenkunft von Rabbinern auf dem Prager Friedhof gegeben, noch ist irgendwo auf dem Erdball die Errichtung einer „jüdischen Weltherrschaft“ geplant worden. Die Friedhofsszene ist eine reine Erfindung. Sie entstammt einem drittklassigen Schauerroman, den der bekennende Antisemit Hermann Goedsche 1868 unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlicht hat.
Zehn Jahre später findet dieses Friedhofskapitel – getrennt vom Rest des Buches – Eingang in ein obskures Pamphlet, das sich „die Protokolle der Weisen von Zion“ nennt. Herkunft und Verfasser der Schrift sind unbekannt. Was zuvor reine Fiktion war, wird jetzt zu einem vermeintlich glaubwürdigen Tatsachenbericht, der nun eine verhängnisvolle „Karriere“ macht. Die „Protokolle“ werden zur bekanntesten antisemitischen Hetzschrift der Weltgeschichte, zum zentralen Referenzdokument der Legende von der „jüdischen Weltverschwörung“.
Der Siegeszug dieser Schrift beginnt 1903 mit seiner Erstveröffentlichung in einer russischen Zeitung, wie Historiker Hagemeister erklärt: „Diese Schrift gibt anscheinend eine Rede wörtlich wieder bei einer Versammlung, deren Zusammensetzung wir überhaupt nicht kennen. Wir kennen auch nicht den Ort, wir kennen nicht den Zeitpunkt dieser Rede; wir wissen nicht mal, wer hier spricht. Der Redner dieser ‚Protokolle‘ beschreibt in einer Art Selbstbekenntnis die geheimen Methoden und Ziele einer angeblich jahrhundertealten jüdischen Verschwörung gegen die gesamte nichtjüdische Welt.“

Der Antisemitismus passt sich dem Zeitgeist an

Da die Judenfeindschaft mit der Zeit geht, finden sich hier „modernisierte“, dem 19. Jahrhundert angepasste, judenfeindliche Klischees: „Es ist überhaupt nicht die Rede von Brunnenvergiftung, Hostienfrevel, Gottesmord, Ritualmord usw. Diese ganzen klassischen, christlichen antijüdischen Stereotype tauchen in den ‚Protokollen‘ überhaupt nicht auf.“
Stattdessen geht es um Gold und Geld, um Macht, um wirtschaftlichen und politischen Einfluss. Die Juden sind jetzt nicht mehr Verbündete des Teufels und Feinde der Christenheit wie im Mittelalter, sondern Feinde der Menschheit, die mit modernen Mitteln nach der Weltherrschaft streben. So heißt es in den „Protokollen“:
„Unsere Losung ist: Gewalt und Hinterlist. Nur die Gewalt allein siegt in der Politik, insbesondere dann, wenn sie in den für einen Staatsmann unentbehrlichen Talenten verborgen ist. Gewalt muss der Grundsatz sein, List und Heuchelei die Regel für die Regierungen, welche nicht gewillt sind, ihre Krone an die Vertreter irgendeiner neuen Macht zu verlieren…“

Ursprung der „Protokolle“ bis heute nebulös

Nach der russischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs kommen die „Protokolle“ im Gepäck russischer Emigranten nach Deutschland. Auch hier dienen sie Antisemiten jeglicher Couleur als Beweis für die jüdische „Zersetzung“ von Politik und Gesellschaft. Aus welchen trüben Quellen diese Schrift wirklich stammt, wer sie erstmals wann und wo zusammenfasste und niederschrieb, das ist bis heute Gegenstand zahlloser Spekulationen. Noch in den 1970er-Jahren war die Version allgemein akzeptiert, die der österreichische Schriftsteller und Shoah-Überlebende Hans Günther Adler hier vorträgt:
„Die ‚Protokolle‘ gab 1919 ein Hauptmann Müller von Hausen heraus, der sich Gottfried zur Beek nannte und ein Freund des Generals Ludendorff war. Beek erzählt, dass die russische Regierung, vom Misstrauen gegen die Zionisten bewogen, zum ersten Zionistenkongress in Basel 1897 einen Späher schickte. Nach Beek ist es dem Späher gelungen, einen beteiligten einflussreichen Juden zu bestechen, der die Berichte der Geheimsitzungen einer jüdischen Loge in Frankfurt überbringen sollte. Beek sagt: ‚Der Bote übernachtete unterwegs in einer kleinen Stadt, wo ihn der Russe mit einer Schar von Schreibern erwartete. Sie fertigten über Nacht die Abschriften an.‘“
Das allerdings verweist Michael Hagemeister ebenso entschieden ins Reich der Fabel wie die These, dass Mitarbeiter der zaristischen Geheimpolizei „Ochrana“ zu den Verfassern gehört hätten: „Diese Geschichte erschien so glaubwürdig, dass sie bis heute tradiert wird. Sie hat allerdings einen Nachteil: Es gibt nicht den geringsten Beweis für ihre Richtigkeit, aber vieles, was dieser Version widerspricht.“

Frei erfunden, nicht gefälscht

Bei seinen Forschungsarbeiten in rund 30 Archiven in zehn Ländern ist Hagemeister auf ein ganzes Sammelsurium skurriler Persönlichkeiten gestoßen, die alle bei Herkunft und Niederschrift der „Protokolle“ zwar dubiose, aber tragende Rollen gespielt haben sollen.
Etwa: die Okkultistin Yuliana Glinka, der französische Graf Alexandre du Chayla, der Schriftsteller Sergej Nilus, die polnisch-russische Adlige Catherine Radziwill, notorische Lügner und Wichtigtuer, abgehalfterte Politiker, halbseidene Aristokraten und, und, und. Den Spekulationen sind keine Grenzen gesetzt.
Dass die „Protokolle“ immer wieder als „Fälschung“ bezeichnet werden, ist, – so Hagemeister – mehr als nur eine sprachliche Nachlässigkeit: „Fälschung bezieht sich auf ein Original; es gibt aber natürlich im Fall der ‚Protokolle‘ kein Original. Es gibt auch keine ‚Weisen von Zion‘. Das alles ist pure Erfindung.“
Die Nationalsozialisten zeigen sich nach anfänglicher Begeisterung für die „Protokolle“ schon bald seltsam zurückhaltend. Zwar wird die Schrift 1934 zur Pflichtlektüre in allen Schulen, verschwindet aber sang- und klanglos schon 1939 wieder. Michael Hagemeister vermutet:
„Es gibt schon in den 1930er-Jahren ein Buch, das heißt ‚Adolf Hitler, Schüler der Weisen von Zion‘. Hier wurde ein Vergleich angestellt zwischen den Plänen und Zielen der ‚Weisen von Zion‘ und dem, was die Nationalsozialisten praktizieren. Vielleicht ein Grund, weshalb die ‚Protokolle‘ nach 1939 in Nazi-Deutschland nicht mehr aufgelegt wurden. Vielleicht fürchteten die Nazis tatsächlich den Vergleich zwischen ihren Herrschaftsmethoden und -zielen und den Plänen der angeblichen ‚Weisen von Zion‘.“

Gerichtsfest widerlegt – mit begrenztem Erfolg

Im Juni 1933 stehen „Die Protokolle der Weisen von Zion“ sozusagen vor Gericht. Der „Schweizerische Israelitische Gemeindebund“ und die „Israelitische Kultusgemeinde Bern“ haben Strafanzeige gegen Personen gestellt, die die „Protokolle“ in Bern vertrieben und verkauft haben. Der judenfeindlichen Propaganda soll damit, so hoffen die Kläger, ein vernichtender Schlag versetzt werden.
Es kommt zu einem Prozess, der sich über mehrere Jahre hinzieht. Er endet mit einem Sieg für die Kläger. Nach der Urteilsverkündung sagt Gerichtspräsident Walter Meyer:

„Ich hoffe, es wird eine Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, wieso sich im Jahr 1935 ein Dutzend sonst ganz gescheiter und vernünftiger Leute 14 Tage lang vor einem Berner Gericht über Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten ‚Protokolle‘, die doch nichts anderes sind als lächerlicher Unsinn, die Köpfe zerbrechen konnten...“

Doch Gerichtspräsident Meyers Hoffnung sollte sich als trügerisch erweisen: „Dear Sir, warum bitte verkauft die „Oxfam“-Niederlassung in Großbritannien antisemitische Literatur…?“ Das fragte der israelische Botschafter in Großbritannien in einem Brief an den Geschäftsführer der Wohltätigkeitsorganisation „Oxfam“. Die nämlich hatte im März 2020 in ihrem Online-Shop eine Ausgabe der „Protokolle der Weisen von Zion“ von 1936 für umgerechnet 110 Euro angeboten.
Es scheint, die „Protokolle“ finden bis heute ihr Publikum – das keineswegs nur in versprengten Telegram-Gruppen sitzt.
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