Die Pandemie als Feldversuch

Welche Erkenntnisse die Wissenschaft aus der Coronakrise zieht

30:59 Minuten
Illustration: Mehrere Menschen laufen über eine grüne Fläche, über manchen von ihnen sind bunte Kreise.
In der Pandemie boomt die Krisenforschung, denn Forschende gewinnen in der Ausnahmesituation, die sie unter normalen Umständen nicht bekämen. © imago / Science Photo Library / Gary Waters
Von Dirk Asendorpf · 01.07.2021
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Pfeifen Fußballschiedsrichter anders, wenn kein Publikum im Stadion ist? Wie krisenfest ist das demokratische Bewusstsein der Bürger? Für Sozialwissenschaftler ist die Pandemie eine Chance, auf manche Fragen endlich Antworten zu finden.
"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, derzeit gelten strenge Ausgangsbeschränkungen, bleiben Sie zu Hause!" So warnt am 21. März 2020 ein Lautsprecherwagen in München-Riem vor der Ansteckungsgefahr durch Covid-19. Eine Anwohnerin hat diese historische Tonaufnahme ins Coronarchiv hochgeladen – eine Onlinedatenbank für Dokumente aus Pandemiezeiten.
Gegründet hat es der Bochumer Historiker Christian Bunnenberg zusammen mit zwei Kollegen der Unis Hamburg und Gießen.
"Wir haben vor allen Dingen viele Audioaufnahmen vom Anfang der Coronakrise, die Stille dokumentieren wollten. Zum Beispiel eine Aufnahme vom Berliner Alexanderplatz, wo man nichts hört", sagt Bunnenberg. "Oder dass man die scheppernde Stimme eines Lautsprecherwagens der Feuerwehr dokumentiert hat, die so eine surreale Wirkung hatte. Man kannte diese Dinge eben bislang nur aus Katastrophenfilmen. Das war mal eine neue Dimension und ein Aha-Moment."
Möglichst viele digitale und digitalisierte Alltagsbeobachtungen wollten die Forscher sammeln:
"Wir haben damit gerechnet, dass wir das abends oder zwischendurch noch so wegmoderieren können. Aber wir sind völlig überrollt worden. Mittlerweile stehen wir mit den Veröffentlichungen bei über 5000. Das innerhalb eines Jahres hat für uns schon einen ordentlichen Aufwand dargestellt, und vor allen Dingen war es eine Überraschung, dass so viel eingesandt wird."

Die Krisenforschung boomt

Das Coronarchiv ist eines von vielen Forschungsprojekten, die die außergewöhnliche Lage während der Pandemie für außergewöhnliche Erkenntnisse nutzen wollen. In welcher Altersgruppe ist das Risikobewusstsein am höchsten? Ist unsere Rechtsordnung katastrophentauglich? Wie verändert sich die Rollenteilung, wenn beide Eltern im Homeoffice arbeiten? Psychologinnen, Soziologen, Juristinnen oder Historiker gewinnen in der Corona-Pandemie Daten, die sie zu normalen Zeiten nicht sammeln konnten. Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten hat allein aus Deutschland über 200 Forschungsprojekte aufgelistet. Mit teils überraschenden Ergebnissen. Es herrscht ein Boom an Krisenforschung – über die Krise und in der Krise.
"Probieren wir’s aus, singen wir von Zuhaus, Chorprobe ohne Risiko, online, nicht allein. Hör mal rein!" Ein Chor aus Limburg lädt zum virtuellen Zusammensingen – und schafft es, gleich vier zentrale Erfahrungen der Pandemiezeit in einem Satz zu vereinen: Risiko, alleine, zu Hause, Online. Auch diese Aufnahme aus dem ersten Lockdown im April 2020 ist im Coronarchiv gelandet.
Viel Kurioses und Amüsantes finde sich dort. Aber das Forschungsprojekt will mehr sein als eine Plattform, die lustige Filmchen sammelt.
"Was uns eingereicht wird, sind durchgehend ernsthafte Auseinandersetzungen", vermutet Bunnenberg. "Wir vermuten, dass es eben auch damit zusammenhängt, dass man nicht die Möglichkeit hat, auf andere Objekte Bezug zu nehmen oder dort in irgendeiner Art und Weise zu kommentieren und dass Skandalisierungen oder ein Aufsehenerregen relativ schnell verpuffen."

Die Geisteswissenschaften für Bürgerbeteiligung öffnen

Christian Bunnenberg und seinen Kollegen geht es darum, die Geisteswissenschaften zu öffnen. Sie wollen, dass sich eine breite Allgemeinheit an der Forschung beteiligt:
"Citizen Science oder bürgerwissenschaftliche Projekte sind in der geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschung bisher unterrepräsentiert. Die Resonanz auf das Coronarchiv zeigt uns, dass es anscheinend in der Bevölkerung einen Bedarf, hier mitzumachen. Und wir würden uns natürlich freuen, wenn es auch zukünftig ein Bedürfnis gibt, bei der weiterführenden Forschung mitzuhelfen. Also dass man zum Beispiel Menschen in den Prozess einer Strukturierung oder einer Verschlagwortung einbezieht. Oder dass man gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern kleinere Ausstellungen aus diesem Archiv heraus gestaltet, die unter einem bestimmten Motto stehen. Ob daraus mal Quellen für die Zukunft werden oder das gesamte Archiv als Quelle genutzt werden kann, das ist eine geschichtstheoretische Diskussion, die sich hieran anschließt."
Ein schwarz gekleideter Fußballschiedsrichter zeigt mit erhobener rechter Hand die Gelbe Karte.
Gibt es ohne Publikum noch einen Heimvorteil beim Fußball? Die Pandemie bot die Möglichkeit, das zu erforschen.© imago images / ActionPictures
Nicht nur in der Geschichtswissenschaft eröffnet die Krise der Forschung neue Wege:
Welchen Einfluss hat zum Beispiel das Stadionpublikum für den Heimvorteil im Profifußball? Über diese Frage konnten Fans stundenlang debattieren, bislang aber ohne empirische Grundlage, denn Spiele ohne Publikum hatte es ja so gut wie nie gegeben. In der Coronakrise ist das anders. Deshalb konnte ein Team um den Kölner Sportwissenschaftler Fabian Wunderlich die Frage jetzt klären. Er hat gut 40.000 Spiele europäischer Fußball-Ligen ausgewertet, gut 1000 davon ohne Publikum.
Das Ergebnis: Fans beeinflussen Fußballspiele tatsächlich. In einem leeren Stadion pfeifen Schiedsrichter bei der Gastmannschaft deutlich weniger Fouls und zeigen ihr auch weniger gelbe oder rote Karten. Auch halbiert sich die Überlegenheit der Heimmannschaft in Bezug auf Torschüsse. Bei den Spielergebnissen ist der statistische Unterschied jedoch geringer. Je nach Auswertungsperiode reduziert sich der Heimvorteil im leeren Stadion nur um ein Sechstel bis ein Drittel. Wie so oft in der Wissenschaft ergibt sich aus einer Antwort gleich die nächste Frage: Wenn die Fans für den Heimvorteil offenbar nicht die Hauptrolle spielen, welche Faktoren sind stattdessen ausschlaggebend?

Anfangs große Akzeptanz für die Einschränkung der Freiheitsrechte

Ein Stadion ohne Fans gab es in Deutschland vor Beginn der Coronakrise eben so wenig wie eine Bevölkerung, deren Grundrechte massiv eingeschränkt wurden. Versammlungs- oder Religionsfreiheit, Demonstrationsrecht, Freiheit der Berufsausübung, Unverletzlichkeit der Wohnung, Freizügigkeit – in Windeseile wurde all das zu Beginn der Pandemie beschnitten. Jenseits des üblichen Parteienstreits demonstrierte die Politik Einigkeit. Einem Großteil der Bevölkerung gefiel das:
"Wir sehen, dass die doch sehr strengen Maßnahmen und starken Einschränkungen unserer Freiheiten am Anfang der Krise große Unterstützung gefunden haben", sagt die Statistikerin Annelies Blom. "Es scheint schon so zu sein, dass die Menschen klare Anweisungen haben möchten, wie sie sich denn verhalten sollen in dieser doch sehr unsicheren Zeit."
Annelies Blom war Leiterin der Mannheimer Corona-Studie. Von Ende März bis Mitte Juli vergangenen Jahres hat sie mit ihrem Team ermittelt, wie sehr die Menschen den Lockdown akzeptieren. Täglich befragten die Forschenden dazu eine repräsentative Gruppe. Ende März befürworteten danach über 80 Prozent der Bevölkerung Veranstaltungsverbote, die Schließung von Geschäften, Grenzen und öffentlichen Einrichtungen. Anfangs konnten sich über 70 Prozent der Befragten vorstellen, dass die Bundesregierung strengere Maßnahmen allein entscheidet – auch wenn dabei die Rechte des Bundestags und der Länder ausgehebelt werden. Diese Zustimmung gab es quer durch die Bevölkerung, weitgehend unabhängig von Bildungshintergrund oder politischer Haltung.
"Wir wissen, dass normalerweise Menschen, die die AfD wählen, eine höhere Zuneigung für erweiterte Exekutivbefugnisse so im Allgemeinen hätten. Wir waren sehr überrascht, dass wir da keine Unterschiede über die Parteien hinweg finden. Ob Menschen für erweiterte Exekutivrechte sind, ob Menschen die Kontaktbeschränkungen nachleben, was sie von den Maßnahmen halten – da spielt letzten Endes immer die Sorge und die Angst die größte Rolle."

Sind politische Einstellungen instabiler als angenommen?

Es zeigte sich auch, dass die Angst mit höherem Alter abnahm. Und noch etwas stach der Statistikerin ins Auge. Schon kurz nach Beginn des ersten Lockdowns begannen die Werte stark zu schwanken. Mal waren viele dafür, dass die Bundesregierung Sonderbefugnisse in der Pandemie haben sollte, mal nur noch wenige.
"Wir sehen, dass die Bevölkerung tatsächlich täglich ihre Einstellungen zu den Befugnissen der Regierung ändern kann. Das ist eigentlich ein Bereich, in dem wir vor der Krise erwartet hätten, dass diese Einstellungen viel stabiler sind", sagt Blom.
"Meine Vermutung ist, dass die Annahme der gefestigten Demokratiebildung in der Gesellschaft überzogen ist und dass sich das tatsächlich sehr schnell ändern kann. Und dass wir diese Möglichkeit der schnellen Änderung leider momentan tatsächlich beobachten."
Die Aufnahme zeigt Demonstrierende bei einer Protestveranstatlung der sogenannten Querdenker-Bewegung.
Von Querdenker bis Maßnahmenbefürworter: In der Coronakrise offenbarte sich ein breites Spektrum an Einstellung hinsichtlich des Handelns der Exekutive.© imago images / U.J.Alexander
Immer lauter wurde im Verlauf der Pandemie die Klage über Regeln, die sich von Bundesland zu Bundesland und oft sogar von Landkreis zu Landkreis unterschieden. Vom Flickenteppich ist die Rede. Dabei liege die Stärke der deutschen Demokratie doch gerade in dieser Vielfalt, meint der Staatsrechtler Oliver Lepsius von der Universität Münster. Besonders deutlich werde das im Vergleich zu Frankreich:
"In Frankreich kann der Staatspräsident den Notstand ausrufen oder Ausnahmezustand, état d'urgence, und dann hat er ziemlich unbegrenzte Kompetenzen. Das ist bei uns natürlich nicht so. Wenn man mehr Leute mitreden lässt, die Bürger auch aktiv einbezieht und das ganze Wissen, was in der Öffentlichkeit vorhanden ist, nicht selektiv expertokratisch, sondern auch mehr in der Breite aufgreift, kommt man zu besseren Entscheidungen. Und sei es nur, dass die Akzeptanz einfach steigt. Das ist ja auch ein Faktor. Denn wenn das die Philosophen-Könige entscheiden, die alles besser wissen, ist die Erfahrung immer, dass die Akzeptanz nicht so hoch ist."

Differenzierung wird als ungerecht wahrgenommen

In Deutschland sind Grundrechtseingriffe nur dann erlaubt, wenn sie verhältnismäßig sind. Konkret bedeutet das: Sie müssen für das jeweilige Ziel erforderlich sein, geeignet und angemessen. Alle Schulen eines Landkreises zu schließen, weil es viele Infektionen in einer Fleischfabrik gegeben hat, ist nicht verhältnismäßig.
Denn für das Ziel, Infektionen zu verhindern, ist die Schulschließung in diesem Fall weder geeignet noch angemessen. In einem benachbarten Landkreis mit gleicher Inzidenz, aber diffusem Infektionsgeschehen kann es dagegen verhältnismäßig sein, alle Schule zu schließen. Den Ruf nach einem einheitlichem Vorgehen hält der Verfassungsrechtler deshalb für falsch.
"Es ist eine interessante Wahrnehmung in der Bevölkerung, dass Differenzierung, also Ungleichheit, ungerecht ist. Das ist ganz tief verwurzelt", sagt Lepsius.
"Wir haben das auch im Steuerrecht und in anderen Debatten: Bitte keine Differenzierung, alle gleich behandeln. Da übersehen die Bürgerinnen und Bürger, dass damit dann auch wiederum Ungerechtigkeiten verbunden sind. Wer pragmatisch handeln will, muss auch sagen: Wir wollen uneinheitlich handeln. Dafür ist der Föderalismus einfach eine sehr gute organisatorische Voraussetzung. Ich fand das von Anfang an ganz unberechtigt, dass immer vom Flickenteppich geredet wird."

Beim einstweiligen Rechtsschutz leidet die Verhältnismäßigkeit

Was verhältnismäßig ist, wenn Grundrechte beschnitten werden – das prüfen in unserer Verfassungsordnung unabhängige Gerichte. Doch die sind in einer Krise, in der sich die Verhältnisse schnell ändern, überfordert. Denn gut begründete Urteile brauchen Zeit:
"Das heißt, es gibt immer nur vorläufige Entscheidungen, keine endgültigen. Die vorläufige Entscheidung ist aber praktisch die endgültige geworden. Denn der Grundrechtseingriff kann vielleicht rückwirkend noch für rechtswidrig erklärt werden, aber er ist ja trotzdem passiert. Wir haben uns immer sehr viel auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingebildet, aber da haben wir lernen müssen: Es funktioniert eben tendenziell nicht, wenn es ein einstweiliger Rechtsschutz ist. Dann haben wir hier ein Problem."
An dieser Stelle müsse nachgebessert werden, meint Oliver Lepsius. Ansonsten habe sich unsere Verfassungsordnung in der Krise bewährt. Deutlich geworden ist das für ihn im April 2021: Mitten in der dritten Corona-Welle haben die Regierungen von Bund und Ländern die Entscheidung über nötige Maßnahmen in einem erneuten Lockdown an den Bundestag abgegeben. Lepsius sieht darin ein starkes Signal. Schließlich hätten die Kanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten damit eingeräumt: Wir sind mit unserem Latein und unseren Mitteln am Ende.
"Das ist erst einmal ein sehr positiver Effekt", findet Lepsius. "Es ist sozusagen eine Rückkehr zum eigentlich vorgesehenen normalen Funktionieren der Institutionen. Und das ist im Grunde genommen Ausweis einer guten Verfassungsordnung. Dieses 'die Krise ist eine Stunde der Exekutive' – ich weiß nicht, ob das für die Flüchtlingskrise gestimmt hat. Ich weiß nicht, ob das für 9/11 gestimmt hat. Ich weiß nicht, ob das für die Eurokrise gestimmt hat. Ich weiß nicht, ob das für die Pandemie gestimmt hat. Ich glaube, es hat eigentlich in keiner dieser Krisen gestimmt. Wir glauben, auf eine Krise muss man irgendwie durch etwas Besonderes reagieren. Aber ich würde sagen: Nein, die Krise ist bewältigt, wenn wir sie mit Normalität bewältigen."

Wie gehen die Menschen mit dem Zeitwohlstand um?

Die neue Normalität, von der seit Beginn der Pandemie so häufig die Rede war – unsere Demokratie braucht sie nicht. In den Alltag vieler Menschen hat sich dagegen durchaus so etwas wie eine neue Normalität eingeschlichen.
"Ich habe Zeit, Zeit wie noch nie
und verschwende sie nicht an Melancholie."
Das Privileg – so heißt das Gedicht, das eine junge Bremer Autorin mit dem Namen Janna im Mai 2020 ins Coronarchiv hochgeladen hat.
"Also lasst uns die Wochen doch dafür nutzen.
Sei es zum Träumen, zum Lesen, zum Putzen.
Ihr könnt tun, was ihr wollt, keiner stört euch dabei.
Auch ein Tag auf dem Sofa bleibt urteilsfrei."
Es ist eine Erfahrung, die viele teilen: Wenn der Arbeitsweg und alle organisierten Freizeitaktivitäten wegfallen, steht plötzlich viel unverplante Zeit zur Verfügung.
"Zeitwohlstand" nennt das die Nachhaltigkeitsforscherin Stefanie Gerold von der Technischen Universität Berlin. Sie hat untersucht, was die Menschen mit den rund acht Stunden pro Woche anfangen, die ihnen im Lockdown zusätzlich zur Verfügung standen.
"Wir haben gesehen, dass die Menschen länger geschlafen haben, sich mehr ausgeruht haben", sagt sie. "Das ist wahrscheinlich die Aktivität, die am nachhaltigsten ist, weil man nichts konsumiert, keine Energie verbraucht."

Bleiben wir auch nach der Pandemie mehr zu Hause?

Mehr Schlaf, mehr Erholung, weniger Konsum und Ressourcenverbrauch – diese Erfahrung könnte der Beginn eines erfreulichen gesellschaftlichen Wandels werden, hofft Stefanie Gerold.
"Ich denke, je länger die Pandemie anhält und je länger Menschen diese Erfahrung machen, wie positiv es auch sein kann, eben nicht alle Abende verplant zu haben oder das ganze Wochenende, könnte ich mir vorstellen, dass es auch einen nachhaltigen Effekt hat", so die Forscherin.
"Natürlich sehnen sich die Menschen wieder zurück nach sozialen Kontakten, auszugehen, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen, aber ich denke schon, dass viele Menschen auch etwas mitgenommen haben im Sinne von: Ich muss nicht jeden Abend verplant sein."
Zwei Gruppen konnten allerdings nicht am neuen Zeitwohlstand teilhaben. Die erste: Menschen in systemrelevanten Berufen, etwa Ärztinnen, Erzieher, Polizistinnen oder Supermarktkassierer. Jobs, die unabdingbar sind, um den Alltag am Laufen zu halten. Diesen Berufsgruppen brachte der Lockdown mehr Arbeit und weniger Schlaf und Entspannung. Die zweite Gruppe sind Eltern:
"Wir sehen, je mehr Kinder Menschen haben, desto geringer ist der Zeitwohlstand", sagt Stefanie Gerold. "Jedes zusätzliche Kind verringert den Zeitwohlstand."

Traditionellere Rollenmuster als gedacht

Kinder verlangen Aufmerksamkeit und lassen weniger Zeit für Schlaf und Erholung. Das gilt zunächst für Mütter wie Väter. Doch alte Geschlechterrollen wirken auch im Ausnahmezustand der Pandemie. Das hat Mareike Bünning vom Wissenschaftszentrum Berlin untersucht. Die Soziologin wollte wissen, wie sich die Rollenverteilung einspielt, wenn beide Eltern im Homeoffice arbeiten, und hat festgestellt:
"Auch in der Coronakrise haben Frauen deutlich mehr Hausarbeit und Kinderbetreuung übernommen als Männer, insbesondere Kinderbetreuung. Wir sind von der Realität her ja inzwischen durchaus weit entfernt vom Hausfrauenmodell, aber es ist immer noch in den Köpfen und Strukturen verankert, dass wir das mal hatten und dass es ganz klar impliziert: Frauen sind immer noch zuständig für Kinderbetreuung und Hausarbeit."
Besonders im ersten Lockdown gab es in Deutschland kaum Diskussionen, als Schulen und Kitas umgehend geschlossen wurden. Darin sieht Mareike Bünning ein tief verwurzeltes Denkmuster, das in der deutschen Arbeitswelt noch immer vorherrsche. Besonders im Vergleich zu Skandinavien werde das deutlich:
"In den skandinavischen Ländern gab es den Grundkonsens, dass Schulen und Kitas so lang wie möglich offen bleiben sollen. Da wurde einfach die Situation erwerbstätiger Eltern gleich mitgedacht. In Deutschland hatten wir zu Beginn der Pandemie einfach reflexhaft gesagt: Okay, die Kinder müssen dann halt zu Hause betreut werden", kritisiert Büning.
"Dieses traditionellen Denkmuster, da wird schon irgendwie eine Mutter zu Hause sein, die das wuppen kann, wurde einfach unhinterfragt so angenommen. Ich glaube, wenn mehr darüber nachgedacht worden wäre, hätte man auch gleich erkennen können, dass das so nicht funktioniert. Aber da war einfach noch ganz klar internalisiert: Irgendwer ist schon zu Hause und kann das übernehmen."

Lehren für künftige Krisen

Die Krise lässt Missstände offen zu Tage treten – und sie motiviert zu längst überfälligen Veränderungen. Davon ist die Soziologin Yasemin El-Menouar nach der Auswertung einer repräsentativen Befragung überzeugt, die sie im November 2020 für die Bertelsmann-Stiftung organisiert hat.
"Ein ganz zentrales Ergebnis ist, dass trotz aller Unterschiede die Menschen sich doch darin einig sind, dass es einen gesellschaftlichen Wandel braucht. Dass sie vorher schon gespürt haben, irgendwas muss sich ändern, aber selber nicht den Mut und vielleicht auch nicht die Kraft hatten, aus dem Alltag auszubrechen", sagt El-Menouar.
"Diese Entscheidung hat ihnen aber nun die Krise in gewisser Weise abgenommen. Und sie haben auch die Erfahrung gemacht, dass Veränderung auch dann möglich ist, wenn das nicht selbst herbeigeführt worden ist. Wir können sagen: Es gibt eine gewisse Form der Aufbruchsstimmung, die ja auch wichtig ist, um weiteren gesellschaftlichen Herausforderungen wie zum Beispiel dem Klimawandel, der uns noch bevorsteht, zu begegnen."
Hilft die Corona-Erfahrung bei der Bewältigung künftiger Krisen? Diese Frage hat sich auch der Politikwissenschaftler Benjamin Nölting gestellt. Mit seinem Team an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde griff er zu einer besonderen Forschungsmethode – er nennt es Logbuch der Veränderungen.
"Wir beschäftigen uns damit, wie Veränderungen ablaufen und gestaltet werden können, weil wir große Veränderungen brauchen, wenn wir nachhaltige Entwicklung voranbringen wollen. Wie kriegt man Menschen dazu, sich darauf einzulassen? Und dafür ist Corona ein super Beispiel", sagt Nölting.
"Mit dem Logbuch haben wir eine Methode gewählt, die sehr frei und sehr offen ist, sodass die, die teilnehmen, einen großen Gestaltungsspielraum haben. Dadurch gestalten die Bürgerinnen und Bürger sehr stark mit, worüber sie berichten. Und das bietet für sie auch eine Plattform, zu betrachten, was sie erlebt haben, und auch ein bisschen darüber nachzudenken, ein bisschen Distanz dazu zu gewinnen. Das war auch ein wichtiger Punkt, weshalb das Logbuch so erfolgreich war. Wir haben ja mittlerweile weit über 1000 Logbuch-Einträge, die zum Teil sehr differenziert und sehr umfänglich sind."

30 neue Alltagspraktiken

Das Logbuch der Veränderungen ist ein offenes Angebot im Internet. Während der Lockdowns und in der vergleichsweise entspannten Zwischenzeit im September 2020 konnte dort jede und jeder anonym Beobachtungen und Gedanken notieren. Zum Beispiel zum Thema Spazierengehen.
"Die Menschen sagen, sie gehen ganz bewusst spazieren, um ihren Tag zu strukturieren. Sie brauchen das, um frische Luft zu schnappen. Sie wollen mal aus der Wohnung raus. Sie treffen sich mit Freunden zum Spazierengehen, weil man sich drinnen nicht mehr treffen kann. Man beobachtet die Natur, man fährt viel öfter ins Umland, statt zu verreisen", sagt Nölting.
"Und es haben sich, wenn man so will, dann auch neue Fähigkeiten entwickelt. Die Menschen haben gesagt, sie können länger spazieren, sie haben mehr Kraft, sie sind ausdauernder. Und dann gibt es ganz interessante Sachen, etwa dass sie sagen: Ich freue mich auf schlechtes Wetter, dann ist es nicht mehr so voll und ich kann in Ruhe spazieren gehen. Oder sie sagen: Man geht sich jetzt bewusst aus dem Weg. Oder: Wir haben eine Geburtstagsfeier gemacht und sind da spazieren gegangen."
Natürlich sind Menschen auch schon früher draußen herumgelaufen. Doch in der Krise hat das Spazierengehen eine neue Qualität und einen neuen Sinn bekommen. Nölting spricht deshalb von einer neuen Praktik.
"Wir haben sehr viele neue Praktiken identifizieren können, so um die 30. Was mich besonders erstaunt hat und beeindruckt hat, ist, dass die Menschen das ganz differenziert betrachtet und bewertet haben. Die haben gesagt: Ich darf das und das und das nicht mehr machen. Also muss ich jetzt das und das machen, zum Beispiel spazieren gehen statt verreisen oder ins Kino gehen. Und dann haben die gesagt: Das ist neu, das habe ich noch nie gemacht. Und da habe ich etwas entdeckt, wo ich mich und meine Umwelt neu entdecke. Vielleicht ist es auch eine Veränderungskompetenz, die die Menschen lernen. Gerade durch die vielen Verbote, weil man sich noch mal überlegen musste: Was zählt, was ist für mich wichtig und wo möchte ich mich einbringen?"
Auf dem Berliner Alexanderplatz sind Tische und Stühle eines Restaurants gestapelt und zusammengestellt.
Lange Zeit hat der Lockdown den unmittelbaren Kontakt verhindert. Das zwang auch Menschen zu elektronischer Kommunikation, die das das eigentlich gar nicht wollen.© picture alliance / dpa/Sputnik / Stringer
Wenn eine Krise hautnah zu spüren ist, kann die Veränderungsbereitschaft sehr groß werden. Diese Erfahrung aus der Corona-Pandemie macht Hoffnung für die drängendste Krise der Zukunft, den Klimawandel. Damit er in einem verträglichen Rahmen bleibt, werden wir unser Leben umstellen müssen. Und da gibt das Logbuch der Veränderungen einen Fingerzeug, wie Menschen auf erzwungene Veränderungen reagieren.
"Sie haben sich überraschend schnell damit arrangiert. Erstens, weil man keine Wahl hatte und weil man natürlich auch oft Angst hatte. Das kann man schon rauslesen aus den Einträgen. Aber auch, weil das eine neue Situation war, die für alle galt. Ich glaube, es macht für die Stimmung unheimlich viel aus, ob alle im gleichen Boot sitzen."
Wir Menschen sind soziale Wesen. Eine Situation, unter der alle gleichermaßen leiden, ertragen wir leichter als Einschränkungen, die nur wenige betreffen.
Putzeimer, Gitarre, Handy – die munteren Corona-Songs, spontan aufgenommen auf einer Dachterrasse in Barcelona und auf Youtube veröffentlicht, haben die Stay Homas im ersten Lockdown berühmt gemacht. Und sie wurden zum Vorbild vieler Balkonkonzerte auch in deutschen Städten.

Zwang zur medialen Kommunikation

Auch das Alleinsein fällt leichter, wenn wir es mit anderen teilen. Und sei es nur rein virtuell.
"Hier kann man sehen, dass natürlich diese Kontakte über das Internet, weil sie eben auch computerbasiert sind, eine eigene Qualität aufweisen. Dass man zum Beispiel massenhaft individuell kommuniziert. Man tut so, wie wenn man persönlich irgendwie redet, und gleichzeitig können ungeheuer viele das mitlesen, miterleben und weitertragen, kopieren und sich daran vernetzen. Wir erleben eigentlich oft sehr emotionale Unmittelbarkeit über diese Medien, die aber eben nur vermittelt ist."
Udo Thiedeke ist Soziologe an der Universität Mainz. Dass Sozialkontakte virtuell stattfinden, sei ein epochaler Umbruch, den die Coronakrise nicht nur beschleunige, sondern auch besonders sichtbar mache.
"Das drängt sich jetzt einfach in den Alltag hinein. Und selbst dann, wenn Sie gar kein Interesse daran haben, mit dem Smartphone oder am Computer zu kommunizieren, sind Sie trotzdem den Auswirkungen dieser neuen medialen Kommunikation ausgesetzt. So wie man davon betroffen war, als der Buchdruck eingeführt wurde, dass man plötzlich am Rande der Gesellschaft steht, wenn man eben nicht lesen und schreiben kann."

Was sind die gesammelten Daten wert?

Thiedeke ist theoretischer Soziologe, kein Empiriker – und damit eine Ausnahme in der Corona-Begleitforschung. Die stützt sich zum größten Teil auf Befragungen, mal repräsentativ, mal qualitativ. Und fast immer findet die Krisenforschung unter sozialer Distanz statt, also vor allem online. Was in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Maskenpflicht dagegen schlecht funktioniert, sind Experimente im normalen Leben oder im Labor. Auch die normalerweise üblichen internationalen Forschungskooperationen gibt es bisher nur vereinzelt, eine Folge von Reisebeschränkungen und geschlossenen Grenzen. In dieser Einseitigkeit der Forschungsmethoden liegt die Gefahr einseitiger Ergebnisse. Das Wissenschaftsmagazin Science hat bereits im April 2020 eindringlich davor gewarnt, wissenschaftliche Standards in der Krise zu verwässern.
Gleichzeitig birgt die eilige Forschung aber auch die Möglichkeit einer produktiven Verunsicherung.
"In der Wissenschaftsgeschichte gibt es diese Idee, dass Krisen immer Chancen sind. Im Moment ist es so, dass jeder Daten sammelt. Jeder sammelt Daten, um die Situation zu verstehen", sagt Dagmar Schäfer, die das Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte leitet.
"Als Historiker würde ich sagen: Die Daten, die jetzt kommen, sind hinterher interessant, um zu verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert hat. Sie sind mehr ein Spiegel dessen, was wir eigentlich denken, was eine Krise ist und wie wir damit umgehen, als dass sie so viel über die Krise selber aussagen. Ich glaube, wir generieren gerade aus historischer Perspektive auch Daten über die Wissenschaften, wie wir sie bisher noch nie hatten."
Seine Ode an die Freude hat der Düsseldorfer Mediziner und Jazz-Pianist Matthias Linzbach in der ersten Lockdown-Woche im März 2020 als Balkonkonzert improvisiert und anschließend ins Coronarchiv hochgeladen. Vielleicht entdeckt sie dort ein Forscher in einigen Jahrzehnten. Und vielleicht kann er dann die ganz besondere Stimmung nachempfinden, in die uns die Corona-Pandemie versetzt hat.

Mitwirkende
Autor: Dirk Asendorpf
Sprecherin und Sprecher: Ilka Teichmüller und Tonio Arango
Regie: Beatrix Ackers
Technik: Alexander Brennecke
Redaktion: Martin Mair

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